Das verborgene Kind
seiner Tochter Lügen aufzutischen. Lottie war schockiert und überrascht gewesen, hatte ihm aber nicht aufzeigen können, wo die feine Grenze zwischen der absoluten Wahrheit und der Realität der Phantasie verlief. Und noch etwas anderes kam hinzu: ein Quäntchen sechster Sinn. Später amüsierte und unterhielt sie ihre Freunde und Kollegen mit komischen oder dramatischen Ausschmückungen, die sie ziemlich gewöhnlichen Begegnungen verlieh, und lenkte so von ihrer Fähigkeit ab, »weiter durch eine Backsteinmauer zu sehen als die meisten Menschen«, wie Tom es einmal beschrieben hatte. Daraus erwuchs ihr ein gewisser Ruf, der andere Menschen auf Distanz hielt, wie die Dornenhecke das schlafende Schneewittchen abschirmte.
Nur Tom hatte diese Distanz überbrückt. Eigenartig, dass ausgerechnet er, der sich mit Fakten und der harten journalistischen Realität auseinandersetzte, sie wirklich verstanden hatte; aber Tom war auch ein schwarzhaariger Kelte gewesen, dessen Großmutter das zweite Gesicht besessen hatte. Es war, als hätte er Lottie auf einer zutiefst spirituellen Ebene erkannt, und für sie war es eine große Erleichterung gewesen, dass er sie so wahrnahm, als sei sie endlich sichtbar geworden. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie sich nicht einsam gefühlt. Sie hatte mit ihm an seinem Buch gearbeitet und es genossen, gelegentlich mit ihm zu Mittag zu essen. Die beiden hatten viele Gemeinsamkeiten entdeckt und rasch eine tiefe Verständnisebene erreicht, die Lottie glücklich gemacht und Tom Trost geschenkt hatte.
Milo dagegen hatte Lottie auf eine andere Art akzeptiert. Sie war einfach die kleine Charlotte, die weit jüngere Schwester seiner Exfrau Sara, und seine Haltung ihr gegenüber war brüderlich, unkompliziert und beruhigend. Er hatte ihr auch den Spitznamen »Lottie« verliehen.
Als Sara Milo nach Hause mitbrachte, um ihn ihrer Familie vorzustellen, liebte Lottie ihn vom ersten Moment an. Sara hatte sie ermahnt, bloß nicht lästig zu fallen, aber Milos Körpergröße und sein fröhliches, dröhnendes, ansteckendes Lachen faszinierten Lottie so sehr, dass sie nicht gehorchte. Milos Wärme zog sie an, und Saras warnende, finstere Miene verlor ihre Macht. Und Milo war trotz des Altersunterschieds von dreizehn Jahren, der ihn von Lottie trennte, nett zu ihr gewesen.
Sehr schnell hatte sie begriffen, dass die Atmosphäre zwischen Milo und Sara nicht stimmte.
»Warum willst du ihn heiraten?«, hatte sie ihre Schwester gefragt. Der Gegensatz zwischen den sichtbaren Zuneigungsbekundungen und den Spannungen, die lautlos in der Luft um die beiden vibrierten, hatte Lottie verwirrt.
Sara hatte ihre Schwester voller Zorn und Verachtung angestarrt. »Wie wär’s, wenn du dich um deine eigenen Angelegenheiten kümmerst?«, hatte sie von oben herab gefaucht.
Zwischen Sara und Lottie schien keine geschwisterliche Beziehung möglich zu sein. Sara war entschlossen, Lottie die Schuld am Tod ihrer Mutter zu geben, die sechs Monate nach der Geburt der Jüngeren gestorben war. »Nach deiner Geburt war sie nie wieder die Alte!«, pflegte sie zu sagen; und da war es nicht gerade hilfreich, dass Milos Eltern die entzückende kleine Schwester der reizbaren, besitzergreifenden und unverblümten älteren vorzogen. Milos Mutter »adoptierte« die zehnjährige Lottie; sie wurde in den Schulferien nach High House eingeladen und erhielt dort sehr bald ihr eigenes Zimmer. Ihr ältlicher und distanzierter Vater war erleichtert, aber Sara zeigte sich irritiert und verächtlich. Sie nannte Lotties Verhalten »Einschmeicheln«. Aber die ungewohnte Freude darüber, dass sie aufrichtige Liebe und ein Gefühl von Familienzugehörigkeit gefunden hatte, war so groß, dass Lottie es nicht aufgab, nur um die launische Sara zu beschwichtigen, die inzwischen mit Milo in einer Wohnung für verheiratete Militärs in der Nähe von Warminster lebte.
Als ihr Vater starb, erschien es ganz natürlich, dass Lottie in High House einzog. Sie war glücklich, wenn Milo, Sara und Nick, der damals noch ein Baby war, zu Besuch kamen, und – obwohl sie sich schämte, das zuzugeben – noch glücklicher, nachdem die unvermeidliche Scheidung erfolgt war und Milo allein oder mit Nick erschien. Als Milo High House erbte, gehörte Lottie schon zum Inventar, und es war ganz selbstverständlich, dass sie weiter zusammenlebten. Milo hatte seinen Posten als Brigadier aufgegeben und war in Pension gegangen, und Lottie, die bei einem Londoner Verlag
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