Das verborgene Kind
arbeitete, kehrte nur am Wochenende nach High House zurück. Seit dieser Zeit waren auch Imogen und Matt regelmäßig bei ihnen zu Gast.
Lottie dachte über Matt nach, als sie jetzt mit einem Strauß Schneeglöckchen durch den Garten spazierte. Er ähnelte seinem Vater auf beinahe unheimliche Weise. Der Blick seiner schmalen braunen Augen; die Art, wie er sein dichtes schwarzes Haar mit nervösen Fingern knetete, bis es zu Berge stand – sein Anblick konnte Lottie dreißig Jahre zurückversetzen und an die seltsame Mischung aus Glücksgefühlen und Kummer erinnern, die sie mit Tom verband. Es war ihr unendlich schwergefallen, dass sie nach seinem Tod nicht offen trauern durfte. Stattdessen hatte man von ihr erwartet, Helen zu trösten und zu unterstützen. Als die Kinder größer wurden, bauten sie auf Lottie, während Helen immer tiefer in Verzweiflung, Leugnung und Schweigen versank. Sooft Lottie konnte, nahm sie die beiden mit nach High House , um Helen eine Ruhepause zu gönnen, in der niemand Ansprüche an sie stellte, und um Matt und Imogen die Freiheit zu schenken, laut zu toben und zu spielen; und sie war Milo zutiefst dankbar für die bedingungslose Zuneigung, die er den beiden kleinen Neuankömmlingen erwies. Sogar Nick hatte deren Besuche genossen, obwohl er gleichzeitig versucht hatte, die Warnungen seiner Mutter zu beherzigen, dass diese Usurpatoren ihn womöglich um sein Erbe bringen oder sich hinterlistig die Zuneigung seines Vaters erschleichen würden.
Lottie wandte sich wieder dem Haus zu. Sie machte sich Sorgen um Matt und hatte immer noch das Gefühl, dass etwas Verhängnisvolles geschehen werde; und doch hatte sie nicht die Vorahnung einer richtigen Katastrophe, nicht dieses reale Grauen, das sie empfunden hatte, als Tom nach Afghanistan zurückgekehrt war.
Matt war ein schwieriges Kind gewesen, das zu Albträumen neigte und furchtbare Angst vor dem Alleinsein hatte. Als sein Vater starb, hatten seine Beklemmungen noch zugenommen, und sie und Helen hatten sie nur gemeinsam überwinden können. Damals hatte Helen das Haus in Finchley verkauft und war in die Gartenwohnung in Blackheath gezogen, wo Lottie als Untermieterin bei ihnen lebte. Eine Zeit lang hatte das gut funktioniert, aber Lottie war nicht in der Lage gewesen, Helen Ausgeglichenheit zu schenken und sie vor quälender Verzweiflung zu bewahren. Doch zumindest hatte sie Matt trösten und dazu beitragen können, dass er sich an seiner ersten Schule einlebte. Und sie hatte dafür gesorgt, dass er Imogen nicht mit seiner überbordenden Phantasie ansteckte, die seinen Schlaf störte.
Als Matt älter wurde, bekämpfte er seine Dämonen mit einer stoischen Tapferkeit, die Lottie in der Seele wehtat. Zu seinen Strategien gehörte es, kleine Geschichten zu schreiben. Darin ging es im Allgemeinen um ein Kind, das sich verlaufen hatte oder verlassen worden war und sich gegen ein Ungeheuer, ein Tier oder einen bösen Zauberer wehren musste. Hinter dem Kind stand immer ein Alter Ego, ein Geisterkind, das den Helden beschützte. Diese Geschichten waren seltsam und aufwühlend, und Matts Lehrer waren abwechselnd beeindruckt und beunruhigt gewesen. Doch niemanden überraschte es, als Matt für seine Essays Preise gewann und später mit einem Stipendium nach Oxford ging. Anschließend trat er, was eigentlich unerhört war, sofort eine Stelle bei einem Verlag an, bevor er ein, zwei Jahre später mit der langwierigen Arbeit an dem Fantasy-Roman begann, der ihm solch große Anerkennung einbringen sollte. Eigentlich war es nicht erstaunlich, dass er nach diesem Riesenerfolg unter einer Schreibblockade litt, und Lottie wunderte sich, dass sie immer noch große Angst um ihn hatte, obwohl er bereits so viel erreicht hatte. Aber ihre Erfahrung verbot ihr, diese Empfindung einfach abzutun. Vielleicht würde sie verstehen, was dieses Gefühl auslöste, wenn sie Matt sah und mit ihm redete.
2. Kapitel
I n Chiswick umrundete Matt den Kreisverkehr und fuhr auf der M4 weiter nach Westen. Auch er dachte an diese frühen Geschichten zurück und daran, dass seine Schriftstellerkarriere durch das Bedürfnis entstanden war, mit dem Tod des Vaters fertig zu werden und mit dem seltsamen, schmerzlichen Gefühl, unvollständig zu sein. Aber die innere Rastlosigkeit und eine furchtbare Einsamkeit verfolgten ihn noch immer.
»Wir werden aus einer inneren Leere heraus schöpferisch«, hatte ein Autorenkollege einmal zu ihm gesagt. »Wir müssen alternative Welten
Weitere Kostenlose Bücher