Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
jüngeren, vor Leben sprühenden Schwester Élodie oder von der schönen, kühnen Celeste. Doch auf dieser einen Zeichnung war sie ganz sie selbst, lebendig und auf der Schwelle zu allem, was noch kommen mochte. Dies war das letzte noch existierende Bild von ihr vor Aubreys katastrophaler Entscheidung, im Zweiten Weltkrieg für sein Land zu kämpfen.
Zach stand da und starrte sie an, ihre wunderschön gezeichneten Hände mit den kurzen, geraden Fingernägeln, die Fältchen in ihrem Haarband. Er stellte sie sich als kleinen Wildfang vor, sah eine Bürste vor sich, die hastig und schmerzhaft durch dieses störrische Haar gezogen wurde. Sie war am Vormittag über die Klippen gestreift auf der Suche nach Federn und Blumen oder sonst irgendeinem Schatz. Kein jungenhaftes Mädchen, aber auch keines, das viel Wert darauf legte, hübsch zu sein. Der Wind hatte ihr Haar zerzaust, und es würde Stunden dauern, die Knoten wieder zu lösen. Celeste hatte sie getadelt, weil sie ihr Haar nicht mit einem Kopftuch geschützt hatte. Élodie saß auf einem Stuhl hinter ihrem Vater, während er zeichnete, baumelte kräftig mit den Beinen und schmollte in eifersüchtiger Wut. Delphines Herz war so voller Stolz und Liebe zu ihrem Vater, dass es beinahe platzen wollte, und während er sie mit gerunzelter Stirn zeichnete, betete sie im Stillen unablässig darum, dass sie ihn nicht enttäuschen würde. In der hellen Galerie starrte Zachs Spiegelbild ihm von dem Glas im Rahmen entgegen, genauso deutlich sichtbar wie die Bleistiftstriche dahinter. Wenn er sich konzen trierte, konnte er beides zugleich sehen – seine Züge, die ihre überlagerten, ihre Augen, die aus seinem Gesicht schauten. Was er da sah, gefiel ihm nicht – auf einmal ließ sein gedankenverlorener, sehnsüchtiger Gesichtsausdruck ihn älter aussehen als fünfunddreißig, und ebenso plötzlich fühlte er sich auch gealtert. Er hatte sich noch nicht gekämmt, das Haar stand ihm wirr vom Kopf, und er musste sich dringend rasieren. Gegen die Ringe unter seinen Augen konnte er wohl nichts tun. Er schlief seit Wochen schon schlecht, seit er von Elises Abreise wusste.
Schritte waren zu hören, und Elise stampfte die Treppe von der Wohnung über der Galerie herunter. Sie wirbelte am Türknauf um die Tür herum, dass ihr langes braunes Haar hinter ihr her flatterte, und strahlte übers ganze Gesicht.
»He! Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht so an der Tür zerren sollst! Du bist inzwischen zu groß dafür, Els. Du reißt sie noch aus den Angeln«, sagte Zach, fing sie auf, hob sie hoch und stellte sie abseits der Tür wieder hin.
»Ja, Dad«, sagte Elise, doch der Anflug von Zerknirschung wurde von einem breiten Grinsen ruiniert, das sich in ihre Worte schlich. »Können wir jetzt frühstücken? Ich hab solchen Hunger.«
» Solchen Hunger? Na, das geht natürlich nicht. Also gut. Einen Moment noch.«
»Aber nur einen!«, rief Elise und trappelte die restlichen Stufen zum Hauptraum der Galerie hinunter, wo man genug Platz zum Herumwirbeln hatte, die Arme weit ausgebreitet und die Füße stets in Gefahr, übereinanderzustolpern. Zach beobachtete sie, und es schnürte ihm die Kehle zu. Sie war jetzt vier Wochen lang bei ihm gewesen, und er wusste nicht, wie er ohne sie zurechtkommen sollte. Elise war sechs Jahre alt, kräftig, gesund, lebhaft. Ihre Augen hatten genau denselben Braunton wie seine, doch ihre waren größer und strahlender, das Weiß weißer, die Form in ständiger Veränderung: weit aufgerissen vor Staunen oder Empörung oder ganz schmal, wenn sie lachte oder müde war. Bei Elise waren diese braunen Augen wunderschön. Sie trug violette Jeans mit zerrissenen Knien und eine offene, leichte grüne Bluse über einem pinkfarbenen T-Shirt, das mit einem Foto von Gemini bedruckt war, ihrem Lieblingspony aus der Reitschule. Elise hatte das Foto selbst geschossen, und es war nicht besonders gut. Gemini hatte die Nase in Richtung Kamera gehoben und die Ohren angelegt, und der Blitz spiegelte sich grell in einem Auge. Auf Zach wirkte er übellaunig, ein wenig miss gestaltet und möglicherweise bösartig. Aber Elise liebte dieses T-Shirt genauso wie das Pony. Die Aufmachung wurde von einer Handtasche aus neongelbem Kunststoff vervollständigt. In diesem unharmonischen Mix greller Farben sah Elise köstlich aus, wie ein knallbuntes Bonbon. Ali wäre mit diesem Outfit, das Elise selbst zusammengestellt hatte, nicht einverstanden, aber dies war ihr letzter gemeinsamer
Weitere Kostenlose Bücher