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Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das verborgene Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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dem geschwungenen Wangenknochen, und dennoch spürte Zach förmlich ihre Aufmerksamkeit, so gewahr schien sie der Person hinter ihr zu sein. Des Betrachters, so viele Jahre später, oder des Künstlers, damals? Die Zeichnung war signiert und auf 1938 datiert.
    Das nächste Bild war eine Kohlezeichnung auf gelblich braunem Papier, ein Porträt von Celeste, Charles Aubreys Geliebter. Von Celeste – honigfarbener Teint unter dickem, üppigem schwarzem Haar – war kein Nachname bekannt, nur, dass sie französisch-marokkanischer Abstammung gewesen war. Das Bild zeigte Kopf und Hals bis zum Schlüsselbein, und in diesem kleinen Ausschnitt hatte die Zeichnung den Zorn der Frau so vollständig und intensiv eingefangen, dass Zach oft beobachtete, wie die Leute leicht zurückwichen, wenn sie sie zum ersten Mal sahen, als erwarteten sie einen Tadel, weil sie das Bild zu betrachten gewagt hatten. Zach fragte sich oft, was die Frau in so aggressive Stimmung versetzt haben mochte. Die Glut in ihren Augen sagte ihm, dass der Künstler sich auf dünnes Eis gewagt hatte, als er sich gerade diesen Augenblick aussuchte, um sie zu zeichnen. Aubreys Frauen waren alle schön gewesen, und selbst bei denjenigen, die nicht als klassische Schönheiten gelten konnten, war es ihm gelungen, auf seinen Porträts das festzuhalten, was ihren besonderen Reiz ausmachte. Celeste jedoch war zweifellos schön mit ihrem ebenmäßigen, ovalen Gesicht, den riesigen mandelförmigen Augen und tiefschwarzen Haaren. Ihr Ausdruck war kühn, furchtlos und absolut hinreißend. Kein Wunder, dass es ihr gelungen war, Charles Aubrey so lange zu fesseln, länger als jede andere seiner zahlreichen Liebschaften.
    Der dritte Aubrey war das Bild, das er stets als letz tes betrachtete und für das er sich am längsten Zeit nahm. Delphine, 1938. Die Tochter des Künstlers, damals dreizehn Jahre alt. Er hatte sie von den Knien aufwärts gezeichnet, wieder mit Bleistift. Sie hatte die Hände vor dem Bauch verschränkt und trug eine Bluse mit Matrosenkragen, das lockige Haar war zum Pferdeschwanz zurückgebunden. Sie stand dem Künstler nicht ganz frontal, sondern leicht schräg gegenüber, und die Haltung ihrer Schultern wirkte steif und unnatürlich, als hätte man sie zuvor aufgefordert, sich gerade zu halten. Das Bild erinnerte an ein Schulfoto in unbehaglicher Pose, doch um den Mund des Mädchens spielte ein nervöses Lächeln, als freute es sich gleichzeitig über die vielleicht ungewohnte Aufmerksamkeit. In ihren Augen und ihrem Haar spielte das Sonnenlicht, und mit ein paar winzigen Akzenten war es Aubrey gelungen, ihre Unsicherheit so deutlich auszudrücken, dass man glauben konnte, sie werde jeden Moment ihre Pose aufgeben, ein Lächeln hinter vorgehaltener Hand verstecken und schüchtern das Gesicht abwenden. Sie war bescheiden, unsicher, gehorsam, und Zach verehrte sie auf verwirrend innige Art und Weise, die teils väterlich und behütend war und teils mehr als das. Ihr Gesicht war noch das eines Kindes, aber ihre Mimik und ihr Blick zeigten bereits Spuren der Frau, zu der sie heranwachsen würde. Sie war die Verkörperung der Jugend, eines neuen Versprechens, wie der Frühling, der nur darauf wartet zu erblühen. Zach hatte schon viele Stunden mit der Betrachtung dieses Porträts verbracht und wünschte, er hätte sie gekannt.
    Die Zeichnung war wertvoll, und wenn er bereit gewesen wäre, sie zu verkaufen, hätte er sich von dem Geld eine ganze Weile über Wasser halten können. Er wusste sogar, wem er sie verkaufen könnte, gleich morgen, falls er sich dazu entschloss: Philip Hart, ebenfalls Aubrey-Liebhaber. Zach hatte ihn vor drei Jahren auf einer Auktion in London bei dieser Zeichnung überboten, und seither war Philip zwei-, dreimal im Jahr vorbeigekommen, um persönlich nachzufragen, ob Zach sich davon trennen würde. Aber dazu war Zach bisher nicht bereit gewesen. Und würde es vielleicht auch nie sein. Hart hatte ihm bei seinem letzten Besuch siebzehntausend Pfund geboten, und zum allerersten Mal war Zach ins Schwanken geraten. So bezaubernd die Zeichnungen von Celeste oder Mitzy auch waren, er hätte sie für die Hälfte dieser Summe verkauft, diese beiden anderen Überbleibsel seines geschrumpften Aubrey-Bestandes. Aber er brachte es nicht fertig, sich von Delphine zu trennen. Auf den wenigen anderen Zeichnungen, die von ihr existierten, war sie ein mageres Kind, eine Gestalt im Hintergrund, in den Schatten gestellt von der Ausstrahlung ihrer

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