Das verborgene Netz
Dreisam – aber kein Geräusch von drüben. Sie drehte den Kopf, bis sie freie Sicht hatte. Noch immer war niemand zu sehen.
»Ist er weg?«
»Nein.«
Mike hatte sich die Maske übers Gesicht gezogen, war
in die Handschuhe geschlüpft und nun fast vollständig mit der Nacht verschmolzen. »Was auch passiert, Sie bleiben liegen«, flüsterte er.
»Kann ich nicht versprechen.«
In den konturlosen Körper neben ihr kam Bewegung. Fast lautlos drehte er sich um, so dass er flach auf dem Rücken zu liegen kam, die Füße Richtung Fluss. Sie hörte seine tiefen Atemzüge, rätselte noch, weshalb er den Blick nach oben gerichtet hatte, nicht mehr nach drüben, als die Dreisam kaum einen Meter von ihr entfernt zu tosen begann, eine Art Keuchen von sich gab und Wasser auf sie spuckte. Undeutlich sah sie Mikes Kopf hochfahren, die Pistole in der Luft schweben, da zerrten Finger an ihren Haaren, als wollten sie sie mit aller Gewalt in den Fluss ziehen, blitzte aus Mikes Waffe Mündungsfeuer auf, begleitet von einem gewaltigen Krachen, das tausendfach vom Beton widerhallte. Knapp über ihr erklang ein Schrei, die Finger in ihren Haaren lösten sich, wieder toste die Dreisam für einen Moment, regnete Wasser auf sie herab.
Mike stand bereits und begann flussabwärts zu laufen, als Louise endlich hochkam, erst einmal auf die Knie, mehr ging noch nicht, in den zitternden Beinen fehlte alle Kraft. Ihr Blick wurde von einem silbrigen Glitzern im Ufergras angezogen – keine dreißig Zentimeter vor ihr lag ein Kampfmesser.
Sie zwang sich hoch, stolperte aus dem Schutz der Brückenwölbung. In ihren Ohren explodierten unablässig Echos des Schusses. Mike war langsamer geworden, hielt die Pistole auf den Fluss gerichtet, blieb jetzt stehen. Im Wasser schwamm jemand, ein schwarzer Leib, umhüllt von aufgeblähtem Kleidungsstoff, der sich rasch in Richtung des gegenüberliegenden Ufers entfernte.
Louise legte die Hände auf die Ohren, wartete auf den tödlichen Schuss. Doch er fiel nicht.
Schweigend sahen sie zu, wie nahe der Brücke ein schmächtiger Mann aus dem Wasser stieg. Er hielt sich den rechten Arm, wo ihn Mikes Kugel getroffen haben musste. Sekunden später war er im Gebüsch verschwunden. Oben an der Straße tauchte er noch einmal für einen Moment auf, dann verlor Louise ihn aus den Augen.
Sie zweifelte nicht daran, dass dies der Mann war, den sie suchte. Der Mann, der im Wald bei Ebnet zusammen mit Steinhoff Philipp Schulz gejagt und getötet hatte. Der Stunden später Steinhoff in dessen Hotelzimmer erschossen hatte.
Sie rieb sich über den Scheitel. Der Schmerz und die Echos verebbten nur allmählich, darunter saß der Schreck. Um Haaresbreite hätte er sie erwischt.
Ein Scherz für Lubowitz: um Haaresbreite.
»Kennen Sie ihn?«
Mike zog sich die Maske vom Gesicht. »Nein.«
»Hatte er es auf Sie abgesehen oder auf mich?«
»Sie wissen zu viel, ich rede zu viel.«
Sie tastete nach dem Handy. »Wird er es noch mal versuchen?«
»Nicht gleich. Er ist Rechtshänder.«
In der Ferne erklangen Martinshörner. Das Führungsund Lagezentrum hatte bereits Streifen losgeschickt.
»Guter Schuss übrigens. Danke.«
»Hätte schiefgehen können, so zappelig, wie Sie sind.«
Sie zuckte die Achseln. »Haben Sie nie Angst?«
Mike antwortete nicht.
Während sie das Handy aus der Tasche zog, richtete sie den Blick auf das andere Ufer. Die Angst und der Schmerz
hatten einen Gedanken freigesetzt. Wörter, die sich irgendwo jenseits der Erschöpfung zu Fragen an Mike zusammenzusetzen begannen.
»Jede Wette, dass es noch jemanden gibt.«
Er sah sie abwartend an.
»Der Kerl ist nicht die unsichtbare Spinne im Netz.«
»Nein?«
»Er ist ein Profi, oder?«
»Ein überheblicher Profi.«
Sie nickte. »Ein Auftragsmörder. Nicht der Auftraggeber.«
Eine Stunde später saß Louise auf ihrem Sofa und versuchte, die Fragen an Mike in Gedanken zu formulieren. Sie hatte das Licht nicht eingeschaltet, Fenster und Balkontür geöffnet. Der feuchte Nachtwind strich durch den Raum. Am Anrufbeantworter blinkte das rote Signal. Sie ließ es blinken, Ben musste warten.
Noch am Dreisamufer hatte sie mit dem Polizeiführer vom Dienst telefoniert. Streifenbesatzungen und der Kriminaldauerdienst waren eingetroffen, Straßensperren um die Innenstadt errichtet worden. Wie Mike vermutete sie, dass sie den Mann nicht finden würden – wenn er auch überheblich war, so blieb er doch ein Profi. Immerhin würden ihn die Sperren und die
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