Das verborgene Netz
Augen, als Bermann nach der Befragung von Heinrich Willert im Treppenhaus gestürzt war. So sehr sie sich auch wünschte, es wäre anders, die Szene endete immer gleich: mit einem dumpfen Krachen, als Bermann mit dem Hinterkopf aufschlug.
Dann sah sie ihn zur Haustür schwanken, zum Auto, er sank auf den Sitz. Sie wusste, dass sie ihn nicht vom Fahren hätte abbringen können, ganz gleich, was sie gesagt hätte.
Er hätte ihr gegenüber niemals zugegeben, dass es ihm schlechtging.
Du kannst jetzt nicht fahren, Rolf.
Red keinen Schwachsinn.
Lass dich untersuchen.
Geh mir nicht auf den Sack.
So war es nun einmal zwischen ihnen – Rolf Bermann und Louise Bonì, das war eine komplizierte Geschichte. Wäre nicht sie, sondern Schöne oder irgendjemand sonst mit ihm bei Willert gewesen, hätte er sich vielleicht helfen lassen, wäre vielleicht sofort in die Notaufnahme gebracht, zwei Stunden früher operiert worden.
Zwei Stunden, die vielleicht entscheidend waren.
19
WIEDER LIESS MIKE SICH ZEIT .
Louise saß seit zwanzig Minuten nahe der Kaiserbrücke auf einer Bank an der Dreisam und versuchte, die Sorge um Bermann für den Moment zu verdrängen.
Viertel vor drei, leichter Regen fiel, die feuchte Kälte kroch ihr durch die Kleidung in die Knochen. Die Dreisam kam ihr breiter vor als sonst, die Herbstniederschläge hatten den Pegel hochgetrieben. Bis auf einen Radfahrer war auf dem Uferweg niemand an ihr vorbeigekommen, war niemand zu sehen gewesen.
Sie stellte den Kragen der Jeansjacke auf, wärmte die Hände unter den Achseln. Mühsam hielt sie den Kopf hoch.
Sie zweifelte nicht daran, dass Mike die Verabredung einhalten würde. Er musste längst in der Nähe sein, beobachtete sie, überprüfte, ob sie allein gekommen war. Ob sie vom Verfassungsschutz verfolgt worden war, ohne es zu bemerken.
Eine weitere Viertelstunde verging, dann hörte sie ein leises Rascheln im Blattwerk hinter sich.
Er setzte sich neben sie. Regenwasser lief ihm über Stirn und Schläfen, die dunklen Augen waren unergründlich.
»Versuchte Tötung, illegale Telekommunikationsüberwachung, Dokumentenfälschung, Einbruch, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Anstiftung zu verschiedenen
anderen Straftaten – sagen Sie mir einen Grund, warum ich Sie nicht festnehmen soll.«
»Weil in Ihrer Waffe keine Patronen sind.«
Sie zog die Heckler & Koch aus dem Holster, ließ das Magazin herausspringen. Es war leer. Ein lang vermisstes Gefühl rührte sich – Wut. Er hatte sie unbewaffnet in Steinhoffs Zimmer gehen lassen.
Sie schloss die Augen, ließ sich von der Wut ergreifen, die sie von innen wärmte und ein weiteres lang vermisstes Gefühl brachte: Plötzlich fühlte sie sich wieder lebendig.
»Außerdem hat Ihre Kollegin das schon getan.«
Sie sah ihn an. »Stimmt, hatte ich vergessen. Das kommt noch dazu: Sie haben sich der Festnahme entzogen.«
Von der Dreisam drang ein aufgeregtes Plätschern an ihr Ohr, von der Brücke Motorengeräusche, ansonsten Stille. Um drei Uhr nachts war dies ein einsamer Ort, wenn man mit einem Mann hier saß, der mehr Gespenst war als ein Mensch aus Fleisch und Blut. An dem nichts greifbar war bis auf seine bizarre Verbundenheit mit Esther, und dass er aussteigen wollte.
Und seine Nervosität – immer wieder richtete er den Blick auf das Ufer gegenüber, wandte sich nach links, nach rechts. Ein Gespenst, das nie zur Ruhe kam.
»Sind die Maulwürfe in ihren Löchern verschwunden?«
»Ja.«
»Alle?«
Er nickte.
» Wie viele waren es?«
»Acht.«
»Acht bei GoSolar?«
»Ja.«
Natürlich würde die Soko versuchen sie aufzuspüren.
Nicht alle würden gefunden werden, aber ein paar, nicht in den nächsten Tagen, aber in einigen Wochen oder Monaten. Die übrigen würden unbehelligt bleiben, im Schutz ihrer richtigen Identität den Alltagsgeschäften nachgehen, bis irgendjemand eine neue Operation plante, ein neues Netz knüpfte. Industriespione waren begehrt, das Ausspähen hatte Hochkonjunktur und war schwer nachzuweisen.
Der alte Zorn regte sich. Man fing den einen und musste machtlos mit ansehen, wie andere in ihren Schlupflöchern verschwanden. Das Netz zerschnitten, doch unter der Oberfläche blieb das System perforiert.
Sie versuchte sich zu beruhigen. Was in den kommenden Stunden geschah, war wichtig, alles andere gehörte zu einer fernen Galaxie. Sie wusste nicht, wo sie in einigen Wochen, einigen Monaten sein würde, wusste nur, wo sie nicht sein würde: in ihrem Büro in der
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