Das verborgene Wort
abbringen.
Dat Band muß langsam loofe, schrie Lore, als Antwort auf Luchs' Aufforderung zum Handeln. Ihr Haarteil hatte sich in der Erregung verschoben und drohte vom schweißigen Vorderkopf aufs rechte Ohr zu rutschen.
Dat Band muß langsam loofe, gellte sie in den Chor des Ze-flöck-verröck, ze-flöck-verröck.
Mir losse us nit för domm verkoofe, brüllte ich.
Der Chor geriet aus dem Takt, ins Stocken. Ein Fehler, den der Prokurist mit einem Aufschrei: Meine Damen! zu nutzen suchte. Zu spät.
Dat Band muß langsam loofe, mir losse us nit för domm verkoofe! schrien Lore und ich wie aus einem Munde, wobei wir >laangsaam< nachdrücklich in die Länge zogen, um dann loszurattern: Mir losse us nit för domm verkoofe.
Und jetzt alle, schrie Lore wie der Präsident auf der Fa-stelovendssitzung: Dat Band muß langsam loofe, mir losse us nit för domm verkoofe! Schwer zu sagen, was wir mehr genossen, den von Wespen, oder waren es Hornissen, umschwärmten, schachmatt gesetzten Dr. Luchs oder uns selbst, unser Gefühl der Stärke, unser Gefühl zu wachsen, mit jeder Silbe, die wir hinausschrien, über uns selbst hinaus und zusammen, >ein feste Burg<.
Eine der Frauen am oberen Ende des Bandes und die Frau an der Abfüllmaschine standen auf. Wir standen alle auf. Ze flöck! Ze flöck! schrien wir und stampften mit den Füßen. Wir standen wie ein Mann. Noch standen wir. Frau Söhlgen, die schüchterne, scheue Frau Söhlgen, jetzt eine der hemmungslosesten schreienden und stampfenden Arbeiterinnen, schob ihren Stuhl zurück und machte den ersten Schritt in Richtung Prokurist. Da gab der auf. Verließ die Halle in einem holprig hüpfenden Lauf, einem zielgerichteten Veitstanz, umwirbelt von Wespen, oder waren es Hornissen, der Meister und Herr Vetten hinterher.
Eine nach der anderen ließen wir uns auf unsere Stühle fallen wie nach einem schweren Stück Arbeit. Die Hitze in der Halle setzte uns wieder zu. Lore stand auf und schloß das Fenster. Noch mieh Wespe bruche mer nit, sagte sie, jitz wolle mir ens wade. Heldejaad, weiß de nit noch en Jedischt? Lööf dat Band ze flöck, wäde mer verröck. Weß de nit noch eins?
Noch lag auf den Gesichtern der Frauen der Abglanz der Freude an der gemeinsamen Widerborstigkeit. Oder war es das Gegenlicht, das ihre Gesichter vergoldete? Sie hatten es einem von denen da oben gezeigt, ihn in die Flucht geschlagen. Doch machte sich auch schon Besorgnis breit. Streik, hatte der Prokurist gerufen. Das konnte die Papiere geben, und der Fernseher und die Couchgarnitur waren noch längst nicht abbezahlt. Hünfelds Änni machte eine halblaute Bemerkung, die ich nicht verstand, und kicherte, keine lachte mit. Frau Söhlgen schaute schon wieder betreten in ihren Schoß. In meinen Büchern gab es Stenotypistinnen, Kinderfräulein, Arzthelferinnen und Krankenschwestern, Modistinnen, Schneiderinnen, Kellnerinnen, Bardamen, Schauspielerinnen und Sängerinnen, Ärztinnen und Bäuerinnen, Töchter, Gattinnen und Witwen. Frauen, die Pillen packten, gab es nicht. Las ich nicht die richtigen Bücher, oder wurde in den
Büchern nicht das Richtige geschrieben? Warum war in den Büchern immer Feierabend? Warum gab es weder Maurer, Metzger, Bäcker in den Büchern, ganz zu schweigen von Fabrikarbeitern, Straßenfegern, Müllmännern. Aber würde ich denn gern von ihnen lesen? Lieber als von Beate und Mareille? Heldejaad, riß mich Lore aus meinem Sinnieren, wo bliev dat Jedischt?
Die Tür sprang auf. Wortlos, ohne uns eines Blickes zu würdigen, verschwand der Meister im Glaskasten. Gab der Frau an der Abfüllmaschine ein Zeichen. Das Band ruckte an. Es lief langsamer. Die Kinder in Indien konnten aufatmen.
Keine von uns hatte es an diesem Tag eilig, aus der Fabrik herauszukommen. Immer wieder verfiel eine der Frauen feixend in Zuckungen und Verrenkungen. Jede wollte einmal Dr. Luchs in Kampf und Niederlage sein. Am besten gelang es der dürren Frau Kluck, Arme und Beine herumzuschleudern, wie von Stromstößen geschüttelt. Häs de dat jesinn, häs de dat jesinn, fragte die eine die andere, vor Lachen die Beine zusammenpressend, eine Hand im Schoß. Häs de jesinn, wie dä Kääl Scheß hatt! Wie däm die Uhrkett op däm Bauch jehöpp is! Wie däm die Diersche en et Hoor jefloje sin! Wie däm dä Schweeß jekumme es! Häs de jesinn! Häs de jesinn!
Gar nicht genug kriegen konnten wir von der Verwandlung des Ereignisses in eine Geschichte, in der jede von uns und wir alle zusammen die Hauptrolle
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