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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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gesessen. Kein Wunder, daß die Spionin von Maternus es schließlich aufgegeben hatte, uns zu beobachten.
    Den >Don Quichotte< brachte ich nach anderthalb Wochen wieder in die Bibliothek zurück. Spanien konnte mir gestohlen bleiben. Und diese verrückten Hirngespinste auch. Was sollte ich mit einem Mann anfangen, der zu viele Ritterbücher gelesen hatte und sich nun selbst für einen Ritter hielt? Eine Schweinemagd für ein Ritterfräulein, einen Klepper für ein herrliches Roß, Windmühlen für feindliche Truppen?
    Das Wetter blieb heiß und trocken. In der Fabrikhalle stand die Luft. Nur die Oberlichter offen. Durchzug hätte die Beipackzettel vom Fließband gewirbelt. Wir schmorten. Als der Meister auf Kosten des Hauses zwei Kisten Sprudel verteilte, gab es nurdünnen, erschöpften Beifall. Ein großer Auftrag aus Indien mußte bis zum Monatsende erledigt werden. Frau Hings kippte am Montag um, Emmi Pütz am Dienstag. Die Abfüllmaschine lief wie immer, das Band auch, die beiden Frauen fehlten, wir schafften es nicht. Immer mehr Röhrchen, Faltpackungen, Zettel blieben bei den Fertigmacherinnen hängen und wurden dort in einen Korb gewischt, dann in zwei Körbe, in drei, in vier. Die Frauen schoben die Körbe hinter einen Wall von Pappkartons, wo sie nicht zu sehen waren.
    Am Mittwoch kam die hochschwangere Minna Kabbes nicht zur Arbeit. Am Donnerstag beschlossen wir in der Mittagspause, Tilli Heinzen und Nora Bott, erstere mit Haaren auf den Zähnen, letztere mit einer anschaulichen Bluse, zum Meister zu schicken: Das Band muß langsamer laufen! Das war die Wirklichkeit. Ich mittendrin. Achselzuckend, verständnisvoll, aber unnachgiebig lehnte der Meister unsere Bitte ab. Befehl von oben. Da legten die Frauen ihre Hände in den Schoß. So, wie die Maschine sie aufs Band spuckte, ließen wir die Röhrchen an uns vorbeiziehen, rührten keinen Stöpsel, keine Faltschachtel, keinen Zettel an. Durch das Stampfen der Abfüllmaschine hindurch hörte ich die Pillen aus dem Glas und mit dem Glas in die Körbe am Ende des Bandes prasseln und fühlte eine zügellose Freude der Auflehnung, der Widersetzlichkeit, des Zorns, >Bella, bella, bella Marie« in Kackallers Küche.
    Schon nach einer halben Stunde waren keine Körbe mehr zum Auffangen da. Sie liefen über. Das Band stand still. Die Abfüllmaschine auch. Stille wie Feierabend. Das Glashaus war leer. Der Meister holte Verstärkung. Herr Vetten aus dem Personalbüro war Mitglied des Kirchenvorstandes und der Schützenbrüderschaft. An einem völlig verregneten Pfingsten war er sogar einmal Schützenkönig gewesen. Er war nicht sehr groß und hielt sich, auf jeden Zentimeter bedacht, aufrecht, Kopf hoch, Brust raus, Bauch rein, was ihm, wohl dank Toast Hawaii und guter Butter, mit den Jahren immer schwerer fiel.
    Das Murmeln der Frauen verstummte. Herr Vetten stierte auf das Durcheinander in den Körben und um die Körbe herum. Das ist doch... das ist doch, stieß er hervor, wobei seine Lippen Speichel sprühten, was irgendwie erquickend wirkte in der pil- lenstaubigen Schwüle. Es erinnerte an Gischt und Meer, Springbrunnen und Fontänen. Hitzig, wie er hereingeplatzt war, stürzte er wieder hinaus und ließ den verdutzten Meister mit den aufgebrachten Frauen allein. Bis auf ein Höschen trugen wir nichts unter unseren Kitteln, auch die Büstenhalter der meisten hingen im Spind. Die Ausdünstungen unserer Körper fluteten durch die heiße, gestaute Luft dem Meister entgegen. Wir waren viele, der Mann, dieses wenig überzeugende Exemplar seiner Gattung, in unserer Hand. Woher hatte er die Macht? Von oben, wie er sich ausdrückte, wenn er nicht weiterwußte. Die da oben. Da oben: Das begann mit Herrn Vetten, einem der unteren von denen da oben, jetzt wohl auf der Suche nach Verstärkung bei Nächsthöheren. Mit bösen Zurufen gingen die Frauen den Meister an, bis auch diesem der Schweiß von Stirn und Nacken troff. Bei jedem neuen Anwurf zog er den Kopf tiefer in den Kragen, riß den obersten Knopf auf, den Schlips auseinander. Doch keine fünf Minuten waren vergangen, da wuchs er schon wieder, tat einen Schuß, wie die Tante aus Rüpprich sagte, wenn sie alljährlich die Zentimeter ihres Patenkindes begutachtete, dä Jong hät ene Schoß jedonn.
    Herr Vetten vom Personalbüro kam zurück. Mit dem Prokuristen Dr. Luchs. Von ihm sprachen die Frauen wie vom Sohne Gottes, über dem nur noch der Vater selbst thront, Dr. Dr. Maternus persönlich, der Prinzipal. Dr. Luchs oder

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