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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Schobers gestanden, das süße Rieseln des Regens draußen, wo Wiesen und Büsche unter der Erquickung bebten. Das anfangs zögernde, später herrische Trommeln der Tropfen aufs Wellblechdach, wenn wir rücklings mit ineinander verschränkten Händen und weit offenen Augen in der weichen, duftenden Fülle nebeneinanderliegen und nichts mehr hören würden, nicht das Rauschen von draußen, nicht das Prasseln aufs Dach, nur noch unseren Atem. Daß am Ende ein Iwan mit einer wechselweise hastigen, zärtlichen, zögernden, groben Bewegung einer Lisaweta den Rock hochschob, ließ ichweg. Ich wollte es mir nicht vorstellen, geschweige denn erleben. Mit keinem.
    Als die ersten Tropfen fielen, waren wir auf einer Höhe mit dem Heustall meiner Träume. Peter ergriff meine Hand und rannte in seine Richtung. Ich riß mich los, stürzte geradeaus. Naß bis auf die Haut, kam ich zu Hause an. Eine Postkarte aus Spanien lag für mich da. Unter einem blauen Himmel ein blaues Meer, darin ein blondes Mädchen im Bikini. Auf der Rückseite außer der Adresse ein Wort: Siggi. Winzig wie Fliegenschiß. Siggi. Die Großmutter fegte die Kräuterasche in den Herd. Die Mutter riß die Fenster auf. Das Gewitter war vorbei.
    Am nächsten Morgen war der Himmel klar, die Luft erfrischend abgekühlt. Alle Frauen saßen wieder am Band. Es lief so schnell wie vor unserem Aufstand. Oder schneller? Keine von uns mochte es eingestehen.
    Nachmittags goß es wieder in Strömen. Vor dem Fabriktor stand Peter mit einem Schirm. Das Wasser stürzte durch den Rinnstein auf die Gullys zu, wo es sich staute und Strudel bildete. Nach Gewittern hatte der Großvater aus Papier, das zu nichts, aber auch gar nichts Vernünftigem mehr zu gebrauchen war, Schiffchen gefaltet. In der Schulstraße, die nach dem Krieg als eine der ersten mit Kanalisation versehen und asphaltiert worden war, hatten wir sie, dort, wo die Straße leicht abfiel, behutsam auf das Wasser gesetzt und frohlockend zugesehen, wie die Schiffchen abwärts schössen in ihr sicheres Verderben, vor dem sie der Großvater jedesmal mit ein paar großen Schritten gerettet hatte. Erst wenn den aufgeweichten Bezwingern der Rinnsteine der Zerfall auf hoher See drohte, durften sie ihrem Ende im Abgrund der Gullys entgegenrasen.
    Es war kühl geworden. Peter hatte einen seiner Pullover mitgebracht, einen Nicki aus dunkelblauem Samt, wie ich ihn schon immer haben wollte. Er reichte mir bis ans Knie. Kommst du mit nach Hause? fragte er, und, als ich zögerte, die Mutter hat extra Kuchen gebacken. Ich machte mir nichts aus Kuchen. Ich zeige dir auch die Treibhäuser.
    Zur Gärtnerei fuhr man eine Station mit der Straßenbahn. Peter bezahlte meinen Fahrschein. Bis auf einmal Fürst Pückler hatte er noch nie etwas für mich bezahlt. Ich hatte dem Schaffner den Groschen schon hingestreckt, doch Peters Arm war ein Stück länger: Zweimal Bromberg. Ich kam mir sehr erwachsen vor. Wenn Männer für Frauen bezahlen, war es ihnen ernst. Zugleich aber fühlte ich mich bevormundet, unfrei, überrumpelt, weniger beschützt als eingeengt, zu einer Zugehörigkeit gezwungen, die ich lästig, beinah demütigend fand. Ich rückte näher ans Fenster.
    Die Körper der Leute dampften von feuchter Wärme, die Fenster waren beschlagen. Ich wischte mit dem Ellenbogen ein Guckloch. Der Regen ließ nach, unter den Wolken formten Sonnenstrahlen einen Fächer.
    Schau mal, sagte ich zu Peter, ein Auge Gottes.
    Hä, machte der verständnislos und erhob sich. Mir sin do.
    Es duftete nach Apfelkuchen, nach Zimt, Vanille und Rosinen, nach frisch gebrühtem Kaffee und frisch geschnittenem Phlox. Peters Mutter hätte in Seldwyla zu Hause sein können mit ihrem warm geröteten Gesicht, den flinken mausgrauen Augen, dem braunen, straff gescheitelten Haar, der drallen Figur, die immer in kreiselnder Bewegung zu sein schien. Aber Peters Mutter wußte, was sie wollte, und ging auf Ziele geradewegs los. Wer sie genauer ansah, stutzte beim Anblick ihres Mundes, stutzte zuerst und fühlte sich dann fast abgestoßen. Sie trug einen Schnitt zwischen Nase und Kinn. Ein Messer. Durch diesen Schnitt gerieten ihre Gesichtszüge in einen merkwürdigen Widerspruch zwischen Lebenslust und Lebensverachtung. Was immer sie sagte, stets strafte der Mund die blanken Augen Lügen.
    Peter handhabte die Kuchengabel geschickt, als zerteile er eine Pflanze, kaute gut und schluckte bedächtig, spülte mit Kaffee nach. Seine Mutter pries derweil ihren Hausstand, ihre

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