Das verborgene Wort
wieder nach Hause.
Es war fast sieben. Es regnet, es regnet, Gott segnet die Welt, neben mir preschte Busche in einem verdreckten gelben Käfer vom Werksgelände, gegen alle Vorschrift mindestens fünfzig, schoß durch eine Pfütze, das bräunlichrote Wasser spritzte mir bis zu den Hüften.
Der Regen zog einen Schleier vor die Landschaft, verwischte selbst die Telegrafenstangen, an denen ich vorüberholperte, ein paar Schafe, graue geduldige Schemen, standen da wie zusammengeleimt. Die Feldwege waren aufgeweicht, glitschig, die Schlaglöcher gefährliche Mulden. Immer wieder mußte ich abspringen, regenblind, durchnäßt, nasser Stoff an nasser Haut.
Erregung, Erwartung, Hoffnung, vorweggenommene Enttäuschung.
Ehe ich ihn sah, hörte ich eine Fahrradklingel, seine Fahrradklingel, klingelnd fuhr ich dem Klingeln entgegen, nie klangen Fahrradklingeln übermütiger, zärtlicher, verliebter. Erst ließen wir die Klingeln los, dann die Räder, rannten aufeinander zu. So, wie uns damals die Kälte zusammengetrieben hatte, vernähte uns nun der Regen wie Himmel und Erde. Ich war da, wie ich sonst nur in den Büchern war, und doch außer mir, in dieser leibhaftigen Umarmung, diesem wirklichen Kuß. Es gab keine Welt mehr außerhalb meines Körpers, der die Signale des anderen Körpers empfing, und dieser Körper war Sigismunds Körper, und er war es auch wieder nicht, ich erlebte ihn gleichsam doppelt, als wirklich und als gelesen, ich hob den wirklichen Sigismund in ein Buch, mein Buch, mein wirkliches Buch, das ich nun mit ihm gemeinsam las. - Später schoben wir unsere Fahrräder nebeneinanderher. Wie belanglos Frau Wachtel mir nun erschien, diese tägliche Zeitverschwendung in verpesteter Luft. Ich fühlte mich frei und schön, klug und gewollt, und der Junge mit dem Fahrrad neben mir, der Junge namens Sigismund, schien mir gewöhnlich und verklärt zugleich.
Der Zauber umgab mich noch, als ich am Gartentor mit dem Vater zusammenstieß, der, triefnaß wie ich, aus dem Garten des Prinzipals kam. Wo küss du dann her? Wie sühs du dann us? herrschte er mich an. Immerhin nahm er mich wahr. Seit der Reise nach Köln waren wir uns bald wieder aus dem Weg gegangen. Wir hatten noch Werkunterricht, sagte ich. Der Vater knurrte. Doför, er griff in den Rock meines Kleides, der mir regenschwer um die Beine klatschte, doför hann esch dat Kleed nit jekoof. Er drückte das Tor zu und verschwand im Schuppen. Das Kleid von den Händen des Vaters mit Erde verschmiert. Es machte nichts. Der Zauber hielt an.
Berufsschule, knurrte ich, als die Mutter am nächsten Morgen unwirsch mein türkisfarbenes Kleid mit den weißen Lederschleifen beäugte. Auch die Schüler der Gymnasien fuhren im Bus von Riesdorf nach Langenhusen. Sie trugen weiße, hellblaue oder rosenholz- farbene Hemden und Krawatten, einige sogar Fliegen; Lehrlinge gingen in Manchesterhosen und losen großkarierten Hemden. Einige Oberschüler hatten ihre Pullover lässig über die Schultern gelegt. Verstohlen berührte ich einen Ärmel, weicher als Doris' Bettdecke.
Außer mir gab es nur noch drei Mädchen im Bus, feingemacht wie ich. Eine Primanergruppe musterte uns wie der Bauer das Vieh, ob es reif ist zum Melken. Sie schwadronierten und lachten wegwerfend mit herabgezogenen Mundwinkeln. Die Lehrlinge dösten zum Fenster hinaus. Ich fühlte mich in meinem Aufputz unwohl und vertiefte mich in das Buch von Sigismund. Ich versank in Oran. Weder die Leidenden, die Opfer, noch die Tapferen, Heldenmütigen nahmen mich gefangen. Der Angestellte Grand prägte sich mir ein, der jede Minute seiner freien Zeit nutzte, den ersten Satz seines Werkes vollendet zu formen, ihn immer wieder abänderte, seinen Rhythmus verlangsamte, beschleunigte, beschwerte oder beflügelte. Seine Versessenheit war die meine. In meinem Kopf >ritt die elegante Amazone an einem schönen Morgen des Monats Mai auf einer wunderbaren Fuchsstute durch die blühenden Alleen im Bois de Boulogne< bis Lan- genhusen-Riesdorf. Alles aussteigen!
Wie beim Jüngsten Gericht strömten die Guten, die Klugen, die Schönen nach rechts, machten ihren Weg zu Latein und Logarithmen, den alten Griechen und Römern, zu Goethe und Camus, Boll und Schiller, Shakespeare und Oscar Wilde, zu Oden und Sonetten, Jamben und Trochäen, während man links Brutto, Tara, Netto, Kürzeln und Wurzeln entgegenstrebte. An diesem Morgen trug ich ein Stück >Faust< unterm Fuß: >Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles. Ach, wir
Weitere Kostenlose Bücher