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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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konnte ich mich von den Wohllauten aus Gestank und Geklapper dieses Zimmers tragen lassen. Verließ der Kopf die Hände, wußten diese nicht weiter, wußten nichts vom Alphabet, von Monaten und Tagen, sie brauchten Befehle von oben. Die Arbeit erforderte das perfekte Zusammenspiel von Hand und Kopf, erforderte Konzentration auf meine geliebten Buchstaben. Und obwohl Frau Wachtel in Tippen und Qualmen aufgegangen zu sein schien, bewegte sie, sobald das Klicken meines Lochers, das Rascheln der Blätter und Schurren der Ordner aussetzte, knarrend die Schraube ihres Sessels und ruckte ihr Gesicht aus dem
    Profil in die Vorderansicht, wortlos dampfend, die stumme Zurechtweisung allenfalls mit einem Räuspern unterstreichend.
    Ein paarmal klingelte das Telefon, dann kramte sie, den Hörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt, in ihren Papieren, sagte ja und nein, nannte Namen und Zahlen. Um eins spuckte ich verstohlen meine Klammerhälften in die Plastikdose.
    Wollen Sie nicht mit uns essen? fragte auf dem Gang die freundliche Dicke. Frau Wachtel rannte vorwärts, als hätte sie nichts gehört.
    Kunze, Auermann, Kacks, hätte ich fast geantwortet, so sehr hatten sich die Namen in meinem Kopf festgetreten.
    Gern, sagte ich, aber Frau Wachtel...
    Ach, die Wachtel, sagte Frau Zipf in vertraulichem, ein wenig wegwerfendem Ton, die lernen Sie schon noch früh genug kennen. Daß man der überhaupt wieder einen Lehrling gegeben hat!
    Wieder war da dieses Gefühl, das mich verwirrte. Warum mochte ich es nicht, wenn jemand schlecht von Frau Wachtel sprach? Warum ging ich nicht mit der freundlichen Frau und den beiden anderen Lehrlingen? Ich wäre ja viel lieber bei ihnen gewesen, hätte gern in ihre heiteren Gesichter gesehen, ihren kleinen Geschichten zugehört. Statt dessen rannte ich wieder hinter Frau Wachtel her, die tat, als wäre ich Luft. Luft, die sie brauchte. Verlangsamte ich meine Schritte, tat sie das auch, und an der Essensausgabe achtete sie darauf, daß sich niemand zwischen uns drängte. An dem gleichen Zweiertisch wie gestern machte sie halt, sich mit Blicken aus den Augenwinkeln vergewissernd, daß ich ihr gefolgt war. Noch immer sprach sie kein Wort. Als ich fragte, ob es ihr schmecke, blies sie mir statt einer Antwort Rauch ins Gesicht und sagte: Nein. Überhaupt nicht. In jeder Silbe eine Dampfwolke der Verachtung.
    Die Kantine war überfüllt. An den Tischen saßen meist Frauen, plauderten, lachten, strichen sich übers Haar, zufrieden, einverstanden, an ihrem Platz. Es schien sie zu belustigen, Briefe zu tippen, zu korrigieren, zu frankieren, die Herren Kaaskarii und Co. KG zu mahnen und zu bitten, Stenogramme aufzunehmen, über die Flure zu huschen mit Papieren in der Hand, Post von A bis Z zu ordnen, das alles schienen sie zu genießen - und die Pause davon. Frau Wachtel ragte in diese flackernde Bürozufriedenheit als ein finsteres Verhängnis. Wo hatte sie gesessen, bevor ich da war? Allein an diesem Tisch? Er war gestern leer gewesen, er war heute leer, obwohl sich die Frauen um die Tische drängten und die Bedienung zusätzlich noch Stühle angeschleppt hatte. Warum war ausgerechnet ich Frau Wachtel zugeteilt worden?
    Quälend wie der Morgen schlich der Nachmittag dahin. Ab und zu suchte ich, von meinen Briefen, den Ordnern, dem Locher aufschauend, den immer dichter werdenden Qualm zu durchdringen und durch das regenblinde Fenster einen Blick auf die rote Backsteinwand mit den Birkenzweigen zu werfen, die im Anprall der Tropfen übermütig wippten.
    Fünf vor fünf zog Frau Wachtel die Haube über ihre Schreibmaschine. Seit dem Morgen war das Fenster nicht geöffnet worden, mein Kopf vergiftet von Rauch, Namen und mißbrauchten Buchstaben. Buchstaben, abgerichtet, erniedrigt, vergewaltigt, und ich mit ihnen. Ich fühlte mich krank. Ich stank nach Qualm und Ordnung. Es regnete noch immer. Würde Sigismund bei diesem Wetter kommen?
    Hätte ich nicht die beiden Mädchen beim Hinausgehen getroffen, wäre ich eine halbe Stunde später im Möhnebusch und bei ihm gewesen. So saß ich kurz darauf mit den anderen Lehrlingen in einem Raum neben der Kantine und erhielt den angekündigten Werkunterricht. Wir mußten unsere Namen sagen und unsere Noten in Steno und Schreibmaschine. Beide Fächer hatte ich verabscheut. Meine Buchstaben in Schlingen und Spitzen, Haken und Ösen zusammenzuschnurren! Das aufdringliche Klappern der Tasten, Fingerkuppen trommelnd auf Metall, die lärmende Belästigung des Apparates - alles

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