Das verborgene Wort
Armen!<
>Üb immer Treu und Redlichkeit<, wandte ich mich dem Mädchen zu, das beharrlich neben mir herlief, seit wir aus dem Bus gestiegen waren, >bis an dein kühles Grab und weiche keinen Fingerbreit von Gottes Wegen ab.< Die Verse waren mit gelbem Backstein in die roten Ziegel des Portals der Berufsschule gemauert. Die Zeit hatte die hellen Steine so mit Schmutz überzogen,daß man sie kaum entziffern konnte. Ich deutete auf den Buchstabenbogen. Kennst du das?
Das Mädchen schaute mich an, als hätte ich geblökt. Ihr kugeliger Kopf, blaß, mit runden, schwarzen Augen, stumpfer Nase und herzigem Mündchen, saß fast ohne Hals auf einem tonnenförmigen Körper, den zwei kurze, kräftige Beine trugen. Sie war gebaut wie ein Schneemann und so weiß und weich, daß man fürchten konnte, in der Sonne werde sie schmelzen.
Isch? Nä! Ein Jedischt is dat. Rischtisch? Isch bin et Trudi.
Sie ging in die Klasse für Verkäuferinnen und sah mir sehnsüchtig nach, als ich ein Stockwerk höher gewiesen wurde.
Der Raum war überfüllt. Drei Bänke mußten zusätzlich herangeschafft werden. Derweil saß ein Mensch, offenbar der Lehrer, hinter dem Pult und las Zeitung. >Bildzeitung<. Außer sehnigen Händen und braunen, abgestoßenen hohen Schuhen war nichts von ihm zu sehen.
Wohlan, die Zeit ist kommen!< tönte plötzlich eine sonore Stimme hinter der Zeitung hervor, die langsam, als enthüllte der Dahintersitzende sich selbst wie ein Bildnis, hinabsank. Mit spitzen Fingern ließ der Mann die Zeitung in den Papierkorb neben dem Pult fallen und wischte sich die Hände mit dem Taschentuch. Dreck, sagte er, und noch einmal: Dreck. Für Hand und Kopf. Dreck. Den will ich hier zum ersten und letzten Mal gesehen haben.
Der Mann erhob sich. Zender, schnarrte er. Artur Zender. Angenehm. Viel fehlte nicht, er hätte die Hacken zusammengeschlagen und die Hände an die Hosennaht gelegt, die Naht einer Pfadfinderhose oder eines Wandervogels, von denen ich in einem alten Kalender >Für den frischen Knaben< gelesen hatte. Artur Zender, drahtig, sportlich, tief gebräunt, machte einen wetterfesten Eindruck, was weniger von den saloppen, in Berufsschulkreisen wohl unvermeidlichen Manchesterhosen als von seiner braunen, mit Edelweiß und Enzian bestickten Lederweste ausging.
Ich hatte versucht, in einer der mittleren Bänke Deckung zu finden, doch Herr Zender hatte mich schon im Blick, wohl weil ich meine Augen nicht von seinen Schuhen lassen konnte.
Da staunen Sie wohl, Fräulein, wie war noch gleich der werte Name?
Palm, sagte ich krebsrot.
Fräulein Palm, da staunen Sie. Und mit Recht. Herr Zender stapfte auf meine Bankreihe zu, als hätte er Sumpf, Moor oder Schnee unter den Sohlen. Ja, das ist also dem Fräulein Palm gleich aufgefallen. Stalingrad. Schon mal was von Stalingrad gehört? Herr Zender ruckte seinen schmalen, kurzgeschorenen Vogelkopf in die vier Ecken des Klassenraums. Dacht' ich mir doch! Kommen hierher, um zu lernen, wie man Geschäfte macht, aber haben keine Ahnung vom Leben.
Ich meldete mich.
Ja, Fräulein Palm.
Bei Stalingrad sind viele deutsche Soldaten in Kriegsgefangenschaft geraten. Und gestorben.
In der Schule waren wir, obwohl es nach Napoleon sehr schnell ging, nur bis zum Versailler Vertrag gekommen. Doch vom Besuch bei Irene in der Müppensiedlung hatte sich mir das Foto ihres Vaters mit einem schwarzen Gazestreifen über der Uniform eingeprägt; und die Stimme ihrer Mutter, die so traurig >Stalingrad< gesagt hatte.
So, aha, und das ist alles, hattet ihr denn keinen Geschichtsunterricht? Nicht einer von uns, stellte sich heraus, war über die Weimarer Republik hinausgekommen. Daß es einen Verbrecher namens Hitler gegeben hatte, wußten wir natürlich alle. Er hieß mit Vornamen Adolf, hatte den Krieg verloren und Juden umgebracht. Abel und Lenchen.
Der Lehrer schaute auf seine Schuhe. Stalingrad. Ich hatte Glück. Nur die Zehen futsch. Und deshalb hat mir Fräulein Palm auf die Schuhe gekuckt.
Herr Zender stapfte zurück zum Pult. Es war ein gewaltiges Pult, auf einem Podest, eine Kommandobrücke, mit breiten Schrankteilen rechts und links. Herr Zender bückte sich, eine Tür knarrte, mit einem breiten Grinsen tauchte er wieder auf.
Was, fragte er, haltet ihr davon, wenn wir erst einmal alle zusammen etwas singen? Schweigen. Ein Mädchen kicherte. La la la, lümmelte einer aus den zusätzlichen Bänken, die so weit am Rand standen, daß sie der Lehrer schwer im Blick behalten konnte.
Jawohl.
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