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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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einen Klaps zwischen die Schulterblätter. Loß desch nit ungerkrieje, sagte sie. Dat Wiev hät dä Düvel em Liev.
    Der Bruder drückte mir einen Zettel in die Hand: Nach fünf im Möhnebusch. S.
    Mit Walther von der Vogelweide unterm Fuß machte ich mich am nächsten Morgen auf den Weg. Das Wetter war umgeschlagen. Gestern hatte der Westwind weiße Maienwölkchen über den Rhein geweht, heute trieb er dunkelnasse Fetzen vor sich her.
    Der Pförtner hielt meinen Werksausweis bereit und händigte mir einen Brief aus. Damit Sie auch janz dazujehören, Frollein Palm, sagte er und tippte jovial an den Rand seiner Mütze. Die ersten Tropfen fielen. Vor mir wurde der letzte Platz im Unterstand für Fahrräder besetzt.
    Ich überflog den Brief, ein Rundschreiben an alle Lehrlinge, das uns über unsere Rechte und Pflichten aufklärte.
    Frau Wachtel platzte ins Zimmer, kniff grußlos die Augen zusammen, verstaute ihre Handtasche, riß ein Päckchen Zigaretten auf, das Klicken des Feuerzeugs, erster Rauch, erster Gestank, Dunst.
    Guten Morgen, sagte ich betont freundlich.
    Was bist du hier schon so früh? Vor mir hat in diesem Zimmer keiner was zu suchen. Merk dir das.
    Sie, sagte ich. Merken Sie sich das. Nach Vollendung des sechzehnten Lebensjahrs ist der Lehrling mit Sie anzureden. Das gilt auch, wenn er mit weniger als sechzehn Jahren in das Werk eingetreten ist, aber erst nach Vollendung des sechzehnten Lebensjahres die Lehre beenden wird.
    Frau Wachtel schnaubte graue, stinkende Schwaden. Die hat den Teufel im Leib, fiel mir die Tante ein, und jetzt brach aus ihr die Hölle. Ich sah Frau Wachtel an, doch in meiner Seele schaute ich viel >veiel unde gruenen kle<, hörte Nachtigall und Pirol und lächelte. Frau Wachtel tat ein paar aufgebrachte Schritte um die Tische, rüttelte mich an den Schultern und schrie wie von Sinnen: Ich verbitte mir diese Grimassen. Ich verbitte mir jede Belehrung. Jäh, wie sie mich angefaßt hatte, ließ sie mich wieder los, verschanzte sich hinter ihrem Schreibtisch, riß eine neue Zigarette aus der Packung, die erste schwelte noch im Aschenbecher, ruckte den Stuhl an die Schreibmaschine und ratterte los. Sie hatte dünne, spitze Finger mit starken Knöcheln an jedem Gelenkabschnitt, Knoten, rot wie verhärtete Frostbeulen. Mit diesen Fingern bewegte sie sich über die Maschine, hämmerte die fächerförmig gespreizten Gebeine in die Tastatur, gegen das Alphabet, die wächsernen, Wachtelschen Fingerkuppen schufen das Wort, und das Wort war bei Debet und Kredit, brutto gegen netto, einer gegen alle und alle für einen und in Taras Namen. Kontokorrent.
    Auf meinem Tisch häuften sich die Geschäftsbriefe. Frau Wachtel mußte seit Wochen keine Ablage mehr gemacht haben. Ich schob die Zahnklammer in den Mund.
    Ich lochte die Bögen mit den öden Wörtern, ließ sie durch die Löcher auf die passenden Stahlklammern der Aktenordner fallen, die öden Bögen mit den löchrigen Wörtern. Hätte ich, wie beim Pillenpacken, meine Hände dem Stumpfsinn, der Routine überantworten und meinen Kopf wie ein Vogel so frei in alle Himmelsrichtungen loslassen können, wäre das nicht weiter schlimm, sogar besser als Fließband gewesen. Doch zwischen mir und der Gedankenfreiheit stand das Alphabet, und das ließ nicht mit sich spaßen. Auermann zu Auermann, Auermann vor Awerzahn, Awerzahn nach Ankerbahn, Ahnemann, geh du voran. War das Alphabet befriedigt, forderte das Datum sein Recht. Briefe von Monaten türmten sich, und mir schien, als habe Frau Wachtel die Schreiben, wie die böse Fee im Märchen Weizen und Spreu, ordentlich durcheinandergemischt, bevor ich kam.
    Wie in den Lexika machten sich auch hier die Buchstaben unterschiedlich breit. Viele Briefe gingen nach Finnland, und dort - das war das einzige Wissen, das mir nach meinem anderthalbtägigen Schritt ins Leben zugewachsen war - begannen die meisten Nachnamen mit H. Sie füllten drei Ordner. Vokale traten meist doppelt auf, Huusarii, Haanakkii, Huuparuu, die Namen heulten wie Käuzchen. Doch sobald ich meinem Kopf nur die geringste Freiheit gestattete, nur sekundenlang Herrn Dipl.-Ing. Eeroo Huusarii auf weichen Schwingen hinausschickte in die Finsternis nächtlicher Tannen- und Fichtenwälder, über die finnischen Seen unterm Sternenhimmel, der uns alle überspannte, den unbekannten Dipl.-Ing. mit dem dunkel rauschenden Namen, Herrn Dr. Viehkötter, den Unterzeichner, mich und Frau Wachtel, war es um die Ordnung geschehen. Nicht für Sekunden

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