Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
Einverstanden?
    Frau Zipf sperrte die Schreibtischtür auf, sie hatte den Schlüssel in einer Dropsdose versteckt, holte eine Thermosflasche heraus und goß den Verschluß randvoll; füllte ein Wasserglas bis zur Hälfte mit der braunen Flüssigkeit und drückte es mir in die Hand. Ein Schluck Tee würde jetzt gut tun. Wohlsein! Mit einem Ruck ihres Kopfes kippte die Frau den Becher hinunter und schüttelte sich. Wahrscheinlich Kräutertee mit viel Salbei, also runter damit. Ich tat es für ihre freundlichen Augen. Augen, dieaus hohen Hautwülsten sicher herausschauten wie aus einer uneinnehmbaren Festung.
    Ich ruckte wie sie den Kopf in den Nacken und goß mir die braune Flüssigkeit in den Hals. Es schlug mich vornüber, schlug mich zusammen. Reine Medizin, hörte ich durch mein Keuchen, Prusten, Schnaufen, reines Kräuterwasser. Rückenklopfen und die Versicherung: >Was bitter ist für den Mund, ist fürs Herze gesund.« Schritte näherten sich. Frau Zipf legte verschwörerisch den Zeigefinger auf die Lippen: >Täglisch einen Underbersch, und du fühlst disch wohl«, flüsterte sie, zwinkerte mir noch einmal zu und schob mich zur Tür hinaus.
    Und ob ich mich wohl fühlte! Leicht und weit, warm und weich, ich war stark und schön, Kräutergeister aus dreiundvierzig Ländern durchströmten mich, füllten mich aus bis in die Haarwurzeln. Ich ging, schritt, wandelte, schwebte, die Treppe hinunter, am Backsteingebäude vorbei, in die weiße Villa, wo ich vor Monaten ins Leben getreten war, fühlte den warmen Wind auf meinen Wangen, im Nacken, hätte am liebsten den Zopf gelöst und die Haare flattern lassen im Winde, fühlte meine Muskeln, die Sehnen und Bänder meiner Beine, die Hüften, die Füße, schleuderte die Arme, hüpfte, streckte die Hände der Sonne entgegen: Das war Ich. Mein wahres Ich ins Leben getreten. >So fordre ich mein Schicksal in die Schranken.«
    In der Personalabteilung empfing mich eine große, schlanke Dame. Sie war beinah noch jung und nannte sich mit engelsmilder Stimme Fräulein Klemm. Aufgekratzt schaute ich mich in dem lichten Zimmer um, die Topfpflanzen waren hier noch blühender als bei Frau Zipf, die bunten Postkarten auf einer noch größeren Tafel, aber nicht wie dort kreuz und quer, sondern in Reih und Glied, rechtwinklig, korrekt wie alles in diesem Raum. Sogar Fräulein Klemm schien mir zwischen zwei Lidschlägen aus lauter Rechtecken und Quadraten zusammengesetzt. Laut lachte Ich aus mir heraus.
    Zum Lachen bestehe nun wirklich kein Anlaß, tadelte Fräulein Klemm säuerlich. Herr Dr. Wadepohl erwarte mich schon.
    Das Zimmer des Leiters der Personalabteilung war mit dem des Fräulein Klemm direkt verbunden durch eine gutgepolsterte Tür, wie sie nach meinem Besuch bei Dr. Luchs schon einmalhinter mir zugefallen war. Auf dem kurzen Weg von der Tür bis zum Schreibtisch versanken die Füße in einem flauschigen Teppichboden, als wäre ich von einem Schritt zum anderen von trockenem Boden in tiefen Schnee geraten. Eine Schneise aus niedergetretenem Flor führte von Fräulein Klemms Tür zu Dr. Wadepohls Schreibtisch. Hinter diesem Schreibtisch steckte in einem gewaltigen Ledersessel, dessen dunkelrotes Polster von goldfarbenen Nieten in handgroße Rhomben geteilt war, ein kleiner, zartgliedriger Mann. Sein vertrocknetes Gesicht war von dünnen Linien durchzogen wie immer wieder glattgestrichenes Pergamentpapier. Ein Männchen. Da half auch sein Bürstenhaarschnitt nichts, der ihn ein paar Zentimeter größer scheinen lassen sollte, durch seine übertriebene Jugendlichkeit das ältliche Gesicht aber nur noch grämlicher machte.
    Wadepohl, Dr. Wadepohl, der volltönende Name umgab seinen Träger wie Schaumgummi. Die Hand, die er mir gab, war durchscheinend, kalt und knochig.
    Dr. Wadepohl, sagte er, mit jeder Silbe ein paar Zentimeter wachsend. Große, blaue Augen blickten mich ausdruckslos an. Ich sah über ihn hinweg auf das Bild hinter ihm. Es war der dünne, lange Mann neben dem Öfchen vor dem lila Fensterrahmen von der letzten Postkarte Sigismunds.
    Dr. Wadepohl kniff die Augen zusammen. Sie kennen das Bild? Natürlich nur ein Druck, hehehe. Er meckerte schwächlich, seinem Brustkorb entsprechend. Die Lachlaute sprangen mir in die medizinierten Ohren wie freche Ziegenböcke. Ich lachte lauthals mit. Dies gefiel Dr. Wadepohl, und es gefiel ihm noch mehr, als ich beiläufig hinzufügte: Bernard Buffet, »Selbstbildnis«. Und es gefiel ihm über die Maßen, als ich dieser

Weitere Kostenlose Bücher