Das verborgene Wort
schon wieder.
Der Bruder sah mich groß an. Wo war mein richtiges Sprechen, mein vornehmes G?
Wat häs de dann do en dä Hand? Die Mutter ergriff meine Faust. Ich überließ sie ihr willig. Wollte ja selbst nichts anderes als es loswerden, fallen lassen, was mir da ins Fleisch schnitt, mich schmerzte, verletzte, verhöhnte. Die Faust ging nicht auf. Die kleinen, harten Hände der Mutter konnten gegen den großen Krampf nichts ausrichten.
Esch kann nit, stöhnte ich. Laßt mesch mal in Ruhe.
Diesen Satz kannten Mutter und Großmutter von mir. Sie wandten sich ab, kopfschüttelnd, mürrisch, die Mutter holte den
Brief aus der Kitteltasche, las ihn, ins Haus zurückgehend, der Großmutter mit erhobener Stimme vor. Der Bruder blieb bei mir. Er sagte nichts. Nahm meine Faust in seine schmuddeligen, knochigen Jungenhände und streichelte sie. Unbeholfen, verschämt. Ich schluchzte nicht, ich heulte nicht, es weinte aus mir heraus, die Tränen liefen die Wangen hinab in den Ausschnitt meiner schwarzen Bluse. Ein paar Tropfen fielen auf unsere Hände. Allmählich löste sich der Krampf, die streichelnde Hand half der geballten Faust, die Finger wieder geradezubiegen, hielt vor Entsetzen inne, als sie sah, was da verborgen gelegen hatte, soviel zerstörte Hoffnung auf eine kleine Schönheit.
Sach nix dä Mama und dä Oma, sagte ich. Et war dä Papa.
Der Papa, wiederholte der Bruder entsetzt.
Ja, sagte ich und schluchzte, diesmal laut und verzweifelt, Rotz und Wasser. Dann war es vorbei.
Nach ein paar Tagen fiel der Mutter auf, daß ich keine Klammer mehr trug. Verloren, antwortete ich. Verloren? Dat jibt et doch ja nit. Waat, bes dä Papp no hem kütt! Do kanns de ding blaues Wunder erlääve! Das blaue Wunder blieb aus. Die Zahnklammer wurde von niemandem mehr erwähnt. Die Raten mußten noch jahrelang bezahlt werden.
Der Brief mit der Unterschrift des Vaters, sorgfältig gemalt, lag am nächsten Morgen neben meinem Frühstücksbrot. Die Mutter fauchte, daß ich nicht zum Ansehen sei in meinem schwarzen Zeug. Sie hatte rotumränderte, verquollene Augen. Als mir der Vater auf der Großenfelder Chaussee entgegenkam, sahen wir aneinander vorbei. Mein Mund fühlte sich leer an, verlassen; ich tastete mit der Zungenspitze über meine schief und eng stehenden Zähne, so würden sie bleiben für alle Zeiten, ich trat in die Pedale, als gälte es mein Leben, raste eine Weile neben der Straßenbahn her, bis mich ein Pferdegespann zum Aufgeben zwang. Ein herrlicher Tag, schnappte ich aus einer Gruppe mir entgegenkommender Radfahrerinnen auf. Ich sah die Wolken, die Pappeln, die Wiesen, die Felder, ich sah den Rhein. Alles blieb auf der Netzhaut kleben, kleine Bildchen einer Guckkastenbühne. Auf dem Weg ins Gehirn verloren die Dinge ihre Farben, verdüsterten sich, verblaßten, wurden grau. Angst konnte mir der Anblick eines Baumes machen, wie er mich vorher beglückt hatte, vorher, als die Bücher noch lebten und ich mit ihnen. So, wie sich der Sinn in die Wörter zurückzog, zogen sich Farben, Gerüche, Bewegungen in die Dinge zurück. Sie verdorrten zu Kulissen, in denen ich umherging wie in einem falschen Stück.
Die Briefe zum Einheften lagen schon da. Während sich Bücher und Landschaften von mir abwandten, drängten sich die Sachen des Büros, je länger ich mit ihnen umging, immer mehr auf. Ich führte Krieg gegen die Sachen und die Sachen gegen mich. Aktenordner fielen mir aus der Hand, die Klammern waren nicht geschlossen, Blätter torkelten heraus, verstreuten sich, Kugelschreiber rollten unter Schränke, Farbbänder rissen, Durchschlagpapier legte sich falsch herum in die Maschine. Spitzte ich einen Bleistift, brach die Mine in Stücke.
Um zehn machte ich mich zum Kaffeeholen bereit, aber da war keine Hand, die mir die nötigen Münzen zuschob. Ich ging dennoch. Traf auf dem Gang Frau Zipf und fragte nach der Personalabteilung. Sie überflog den Brief und sah mich mitleidig an.
Dann kommen Sie erst einmal zu mir, sagte sie. Ihr Zimmer, Abteilung »Verkauf«, war etwa so groß wie das Wachtelsche, hatte aber zwei Fenster, weit geöffnet, Topfblumen auf den Fensterbänken. In einem Wechselrahmen hing ein bärtiger Geiger über einer Stadt, daneben ein Korkbrett, Ansichtskarten mit Stecknadeln festgepinnt. Sogar der Fußboden, graues Linoleum mit dunklen Einsprengseln, schien mir heller als der, den ich jeden Tag sah.
So, sagte sie. Ehe Sie ins Personalbüro jehen, erst mal eine kleine Stärkung.
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