Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
der Vater fuhr mit seinem Finger in meinem Mund herum. Ich würgte. Tastete mit fliegenden Fingern nach meinem Mund, die Hand zog sich zurück. Ich nestelte die Klammern heraus, hielt sie behutsam, furchtsam in beiden Händen.
    Her domet! Der Vater streckte die Hand aus, Handfläche nach oben. Mit der anderen drückte er noch immer meinen Nacken nach unten, bediente sich meines Nackens zur Lenkung meiner Person wie eines Steuerknüppels; bei jedem Versuch, den Kopf zu heben, bei jedem Zögern, seinen Befehlen zu folgen, verstärkte sich der Druck, so, wie man mehr Gas gibt. Ich spurte.
    Her domet!
    Zitternd legte ich die speichelfeuchten, zarten Gebilde aus Plastik und Draht auf seine Handfläche, schwielig verborkt, die Linien grauschwarze Striche wie mit Tinte gezogen, mit der Nadel radiert.
    Papa, flehte ich. So hatte ich ihn seit meinen Kindertagen nicht mehr genannt, nicht, als er mir die Kleider gekauft hatte, das Fahrrad, die Klammern bewilligt hatte. Papa, hatte ich gerufen, wenn er sich dem Schrank zugewandt hatte, dem blauen Stöckchen hinter der Uhr. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, aberden Geruch erkannte ich wieder; den wilden Geruch, der ihm aus allen Poren gequollen war, wenn er, Papa!, nach dem Stöckchen gegriffen hatte. Jedesmal hatte er nach dem Stöckchen gegriffen, wenn ich Papa! gerufen hatte, wenn sein Geruch auf mich eingedrungen war, ein Bote der Schmerzen.
    Papa, rief ich noch einmal, drückte den Nacken freiwillig tiefer, zog den Kopf freiwillig zwischen die Schultern. Der Schlag blieb aus. Vielmehr riß er meinen Kopf am Nacken wieder in die Höhe, so, daß ich aufsehen mußte, hinsehen mußte, auf seine Hand, auf meine Zahnklammern auf seiner Hand. Die sich langsam und vorsichtig schloß, bis der Gegenstand ganz verborgen, unsichtbar war.
    Papa, wimmerte ich.
    Papa, winselte ich.
    Da drückte er zu.
    Langsam. Langsam. In jedem Bruchteil der Sekunden wäre noch etwas zu retten gewesen. Erst verbogen sich nur die Drähte, lautlos, erst im nächsten Jahr erreichte mein Ohr das Platzen der Gaumenplatten, im Jahr darauf das Splittern der Kieferschienen, im nächsten Jahrhundert hörte ich, wie sich Draht am Plastik rieb, ein feines, trockenes Knirschen, Schuhe auf harschem Schnee und tausend Jahre später das Malmen der Splitter und Drähte zu Klump.
    Do häs de et widder. Die Stimme des Vaters drang wie durch großes Glockengeläut, die Glocken ganz nah, die Stimme fern, kaum hörbar: Do häs de et widder. Du wollst doch immer en Klammer han. Du wollst doch immer jet Besseres sin. Do häs de et. Do!
    Der Vater bog mir die Faust auf und preßte die scharfkantigen Trümmer hinein. Als ich wieder zu mir kam, schwebten die Gesichter der Mutter und Großmutter über mir. Der Vater war weg. Vor meiner Nase ein Taschentuch mit Kölnisch Wasser, ein naßkalter Lappen auf meiner Stirn.
    Kenk, wat es los, näherte sich von ferne die verstörte Stimme der Mutter, Heldejaad, Heldejaad, Jesses Maria, die der Großmutter. Ich ließ sie rufen. Ich wollte nicht mehr. Ich konnte nicht mehr.
    Bertram, schrie die Mutter nach dem Bruder. Holl dä Papp! Wo es dann dä Papp? Dä Papp wor doch jrad noch do!
    Nur das nicht. Keinen Vater. Lieber die Augen aufmachen, sich langsam aufrichten, den Arm der Großmutter im Rücken fühlen, zum Sitzen kommen, sich aufstützen. Warum kriegte ich meine rechte Hand nicht auseinander? Warum schmerzte sie wie von tiefen Schnitten?
    Hilla, die Stimme der Mutter klang unwillig und besorgt, wat es los? Wat sull dat Spell?
    Loß dat Kenk doch esch ens zo sesch kumme, fiel ihr die Großmutter ins Wort.
    Heldejaad, wat häs de dann do en dä Häng?
    Bebend streckte ich den Frauen meine Faust entgegen, und der Bruder, der erst jetzt dazugekommen war, lachte und ahmte die Geste nach. Es ist kalt, wimmerte er dazu, es ist kalt, schüttelte sich wie in großem Frost am ganzen Leibe. Noch ein Jahr nachdem ich mit dieser Gebärde und diesen Worten aus dem Düsseldorfer Schauspielhaus zurückgekommen war, konnten wir beide uns ausschütten vor Lachen, wenn wir in wilden Verrenkungen, bibbernd und mit zitternd ausgestreckten Händen, wehklagend umherliefen. Der Bruder sah mir ins Gesicht und verstummte. Hilla, was ist los?
    Wat soll los sin? fauchte die Mutter. Nun stang ald op! Wo bliev bloß dä Papp ?
    Dä ist mit däm Fahrrad weg, sagte der Bruder, unschlüssig, ob er mehr zur Mutter sprechen sollte, auf Platt, oder Hochdeutsch mit mir.
    Ich stand auf.
    Is jut, Mama, sagte ich. Jeht

Weitere Kostenlose Bücher