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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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diese Stelle nicht verdient. Das Fräulein Palm gehört hier nicht her.
    Es war, als ginge etwas in meinem Rücken entzwei, und ich konnte nicht mehr schlucken. Speichel sammelte sich in meinem Mund, unter den Plastikhälften meiner Spange, immer mehr Speichel. Ich spuckte. Vor ihren hellen Schreibtisch, die moderne Schreibmaschine.
    Frau Wachtel rauschte hinaus und kam mit Dr. Viehkötter wieder. Der Rotz war weg. Zitternd deutete sie auf die Stelle, wo nichts war. Mein Rücken hatte sich wieder zusammengefügt. Ich sah Dr. Viehkötter an. Aufrecht und demütig zugleich, so, wie einer, der weiß, was er seinem Vorgesetzten schuldig ist, der weiß, wo oben und unten ist, weiß, wo er hingehört.
    Fräulein Palm, begann Dr. Viehkötter verwirrt, brach ab, riß das Fenster auf. Eine Luft ist hier. Wie Sie das bloß aushalten! Bei dem Wetter. Also, Frau Wachtel, das machen Sie mal unter sich aus. Ohne Corpus delicti kein Delikt. Hahaha. Empfehlung, die Damen. Und vergessen Sie den Luftbefeuchter nicht!
    Die Sache hat ein Nachspiel! Frau Wachtel knallte das Fenster wieder zu und verließ das Zimmer. Als sie zurückkam, sah sie mich aus zusammengekniffenen Augen höhnisch an.
    Wir sprachen nicht am Montag und nicht am Dienstag. Am Mittwoch kam der Brief. Der Brief an den Vater.
    Fürläse, knurrte er, er war früher als gewöhnlich aus dem Garten des Prinzipals nach Hause gekommen und mußte bald schonzurück in die Fabrik, wo er wieder den Nachtwächter im Urlaub vertrat. Wenn ich morgens zur Arbeit fuhr, kam mir der Vater auf seinem Fahrrad entgegen, kleingeschrumpft vor Müdigkeit, schwarze Stoppeln im grauen Gesicht. Wir grüßten uns mit den Augen.
    Fürläse.
    Die Mutter schlug den Brief auseinander: >... sehen wir uns gezwungen, Sie davon zu unterrichten, daß die Leistungen und das Benehmen Ihrer Tochter zu beträchtlichen Klagen Anlaß geben. Sollte hier nicht auf beiden Gebieten Besserung eintreten, sehen wir uns gezwungen, das Lehrverhältnis aufzulösen. Bitte bestätigen Sie die Kenntnisnahme des Briefes mit Ihrer Unterschrift. Ihre Tochter ist gehalten, mit dem unterschriebenen Brief baldmöglichst in der Personalabteilung vorstellig zu werden. Hochachtungsvoll.«
    Der Mutter zitterten die Hände, der Brief segelte sacht auf das Wachstuch.
    Dat hät mer dovon, dat mer desch op de Scholl jescheck han, sagte sie tonlos. Dann, lauter: En dä Fabreck hät mer der de Flause ald usjedrevve. Sie sah den Vater beifallheischend an. Der wischte sich mit dem erd- und ölverschmierten Ärmel seines Blaumanns über die Stirn und ging hinaus.
    In meinem Holzstall schob ich den Riegel vor, hörte, wie der Vater im Schuppen nebenan Nägel einschlug, schnelle, helle Schläge und dumpfe, schwere wechselten einander ab. Das Hämmern setzte aus, Schritte, ein paar Faustschläge an meine Stalltür, die Stimme des Vaters: Kumm russ. Ein Rütteln. Mach op.
    Ich rührte mich nicht. Saß in der einbrechenden Dämmerung vor dem Stenoblock, den Bleistift in der Hand. Leer.
    Mach op! Esch trät de Düür en. Mach op!
    Ich schob den Riegel zur Seite. Der Vater erschien in der Tür, hereinkommen konnte er nicht, es war ja nur Platz für Tisch und Stuhl und meine Bücher, die allmählich an den Wänden hochwuchsen. Er zwängte sich aber doch in den Raum, einem Bücherstapel neben dem Öfchen, das er mir dort eingebaut hatte, einen Fußtritt versetzend, alte Bücher, mit morschem Papier und schütteren Einbänden, vom Dachboden der Bürgermeistervilla, >Rolf der Junker«, >Rolf der Dragoner«, >Die Majorin« und >Derletzte Rittmeister«. >Der Kranz der Engel« und >Die Letzte am Schaffott«, >Ich filme mit Wilden«, >Das Beichtgeheimnis«.
    Papa, schrie ich. Und noch einmal lauter. Papa! Wo war die Mutter? Die Großmutter? Der Bruder? Hörte mich denn niemand?
    Der Vater riß mich hoch, warf den Stuhl in den Hof. Preßte mich mit einer Hand und einem Bein fest gegen die Tischkante. Ich roch seinen müden Schweiß, den er gleich in die Müdigkeit der Nachtschicht schleppen würde.
    Mach de Muul op, zischte der Vater. Die Klammere eruss!
    Ich biß mir auf die Lippen; die Zähne zusammenbeißen konnte ich wegen der Klammern nicht. Mit der freien Hand packte der Vater mich im Nacken, drückte zu: Die Klammere eruss.
    Er preßte seinen Unterleib gegen den meinen, umklammerte mit der Rechten meinen Nacken, griff mir mit der Linken unters Kinn und quetschte meinen Unterkiefer zusammen. Die Kiefer sprangen auseinander, ich schrie vor Schmerzen,

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