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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Peter umklammert und wußte, es war das erste und das letzte Mal. An Piepers Eck stieg ich ab, Peter wollte mich nicht vor die Haustür fahren. Da, wo meine Brüste ihn berührt hatten, war sein weißes Hemd schmuddelig verfärbt.
    Es waren die Flämmchen, blaugolden züngelnd auf samtigem Grün, die mich einen Zehnmarkschein aus dem Großvaterkästchen nehmen und nach Hölldorf fahren ließen. An den Kiosk in Strauberg traute ich mich nicht. Zu oft hatte ich dem Mann die Geschichte einer magenkranken Großmutter erzählt. Immer unwirscher hatte er mir die Fläschchen über die Theke geschoben.
    Der Hölldorfer Verkäufer war groß und dünn und trug eine Goldrandbrille. So ähnlich sah er dem Großenfelder Buchhändler, daß mein schlechtes Gewissen mich fast aus dem Laden herausgetrieben hätte. Acht Mark fünfzig. Damit sagte ich zwölfmal: >Ich kenne diesen Menschen nichts zwölfmal den Kopf zur Seite gewendet, zwölfmal den Wörtergeist verleugnet. Zwölf Reclamheftchen mit einem Punkt! Er packte mir die Flasche als Geschenk ein.
    Der grüne Geist hatte den der Bücher fast verzehrt. Wozu der
    Umweg über die Buchstaben, um die Welten zu wechseln, um aus der einen Wirklichkeit in eine andere überzusiedeln, die Dinge abzustreifen, in Bildern aufzugehen? Nach dem ersten Schluck stand ich in einer züngelnden Aureole, wie ich sie von den Heiligenbildchen kannte, die ich einst als Fleißkärtchen gesammelt hatte. Den Heiligen wuchs die Heiligkeit in goldenen Stacheln nach außen, mir glühte ein weicher, geschmeidiger Strahlenkranz unter der Haut.
    Die Flasche im Holzschuppen zu verstecken, wagte ich nicht. Nur in meinem Matchbeutel, den ich immer mit mir trug und jeden Abend neben mein Bett stellte, war sie sicher. Ich machte das Geschenkpapier nicht ab, trank, wann immer es nötig war, einen Schluck aus der Flasche und schob das Papier wieder über den Flaschenhals.
    Von Sigismund kein Brief. Ich hielt es in meinem Holzstall nicht aus, setzte mich zu Mutter und Großmutter. Häs de jenuch von de Bööscher, fragte die Mutter schadenfroh. Jojo, ergänzte die Großmutter, dat is jitz der Ernst des Lebens. Um acht gab es die >Tagesschau<. In der Kantine hatte ich vom Nebentisch ein erregtes Gespräch mit angehört, in dem es um >Flüchtlingswellen< ging, wie die ältere Frau der jüngeren mitteilte, wobei sie ihre Gabel ein paarmal auf und ab durch die Luft führte. Täglich Tausende, hatte ich aufgeschnappt, kämen über die grüne Grenze nur mit dem, was sie gerade anhätten. Vielleicht noch eine Tasche, ein Köfferchen.
    Ich wußte, daß drüben der Kommunismus herrschte, der Antichrist, und daß der Kommunismus die Weltherrschaft anstrebte. Luzifer, suchend, wen er verschlingen könnte. Vor Jahren hatte ich geholfen, Päckchen nach drüben zu packen, wenn die Frauen vom Frauenverein sich in der Weihnachtszeit ihrer Schwestern und Brüder erinnerten, Heidenkinder, arm und unglücklich, aber deutsch. Im ersten Jahr, ich konnte gerade schreiben, hatte ich vier Gedichte beigesteuert, viermal in meiner schönsten Schrift >Markt und Straßen stehn verlassen< abgeschrieben. Die Mutter war außer sich geraten über die Papierverschwendung - ich hatte ein ganzes Schreibheft verbraucht -, und die anderen Frauen hatten gelacht und gesagt, von schöne Wöödwäd mer nit satt [70] . Friedel, die Kaffee und Würfelzucker brachte, bewirkte mit ihrem Lob, daß die Mutter sich beruhigte und die Gedichte auf vier Päckchen verteilt wurden.
    Freiheit sei es, was im Osten fehle, hatte die Ältere der Jüngeren in der Kantine erklärt. Unterdrückt seien die Menschen, bespitzelt Tag und Nacht. Und in die Kirche gehen dürften sie auch nicht.
    Noch keine fünf Jahre war es her, der Großvater schon tot, daß die Familie um das Radio gesessen hatte, sogar die beiden Nachbarinnen Julchen und Klärchen, zu geizig, ihren alten Volksempfänger reparieren zu lassen, waren zu uns gelaufen, um das Unglaubliche zu hören: Schüsse, Gewehrsalven aus dem Radio, Schreie, Explosionen, Rasseln wie von schweren Ketten, Panzer, hatte der Vater gesagt, dat sin Panzer, dazwischen die Stimme eines Reporters, abwechselnd tonlos vor Entsetzen, dann wieder sich überschlagend in hilfloser Wut.
    Nä, nä, die ärme Lückscher, hatte Julchen gesagt und Klärchen wie immer den Satz papageienhaft wiederholt. Die Mutter hatte aufgeschluchzt und sich mit dem Kittelzipfel die Augen gewischt. Nur die Großmutter behielt die Nerven. Als das Dröhnen der Panzer

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