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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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hatte, als die Panzer durch Budapest rollten.
    Wie damals beteten wir den schmerzensreichen Rosenkranz, >der für uns ist gegeißelt wordene Nach dem ersten Gesetz ging man bedrückt auseinander. Montag. Die Frauen mußten noch die Wäsche von der Leine nehmen.
    Jitz es dä Prummekooche ald verbrannt, seufzte Julchen, als sie aus der Hintertür trat und ihrem Küchenfenster entgegenschnupperte.
    Nä, nä, tadelte Klärchen ihre Schwester, wie kanns de blos an Prummekooche denke, wenn se en dä Zone die Minsche henger Stacheldroht bränge wie de weide Diere em Zoo. Fählt nur noch, dat se die lebendesch enmure*. * lebendig einmauern
    Jongejong, lenkte Julchen ein und dehnte sich gewaltig in den Armen. Vielleicht konnte sie keine Telegrafenmasten mehr schultern, aber man glaubte ihr aufs Wort, wenn sie die Hände zu Fäusten ballte und sagte: Die sollte mer kumme! Du häs Räät! Minsche henger Stacheldroht! Dat kann mer sesch doch nit beede loße.
    Julchen und Klärchen mit ihren geballten Fäusten, die Großmutter mit ihrem Rosenkranz hatten recht: Diese Bilder konnte man nicht einfach hinnehmen. Man mußte handeln. Ich ging in den Holzstall, nahm einen dem Ereignis angemessenen Schluck und schrieb:
    »Deutsch! Hörst du den Klang, Deutscher?
    Die Freiheitsglocke in deinem Herzen?
    Deutsch!
    Sie läutet deutsch!
    Deutsche Freiheit für alle Deutschen
    Freiheit für alle!
    Hörst du den Klang, Deutscher?
    Sie läutet uns zusammen
    Deutschund frei!
    Mensch und frei!<
    Wirklich hörte ich es klingen, deutsch und Mensch und frei, und in diesem Ton noch einige Seiten fort, majestätisch brausten die Wörter durch meinen Kopf aufs Papier, ein machtvoller Haufen, Truppen, eine Armee. Bataillone ließ ich aufmarschieren, je mehr Wörter, desto größer die Kraft, ein Bollwerk gegen die finsteren Mächte der Wirklichkeit, niederreißen den Stacheldraht auf dem Papier, die Panzer zertrümmern mit Tausenden zur Freiheit umeinander verhakten Buchstaben, wie Demonstranten gegen die Volkspolizei. In immer neuen Formationen ließ ich die Wörter paradieren, »deutsch und frei<, »Mensch und frei< gingen voran, trugen die Standarte mit Klang und Geläute, gefolgt von anderen, schwächeren Worten, keines konnte neutral bleiben, jedes wurde zur Parteinahme gezwungen, den unlustigen durch ein paar Ausrufezeichen Beine gemacht. Selbst altbekannte Drückeberger - >und<, >so<, >es< - ge-rieten in den Sog der großen, deutschen Freiheitsbewegung in meinem Rechenheft. Später ersetzte ich Stacheldraht durch Mauer:
    >Reiß die Mauer nieder
    in deinem Herzen!
    Erst dann bist du frei!
    Mensch und frei!<
    Je länger Ich schrieb, desto weniger bedrückten mich die Bilder, die Spannung ebbte ab, als hätten mich die Wörter vom Erleben der Bilder erlöst. Die Bilder waren wieder Bilder, sonst nichts. Ich konnte wieder hinsehen, gelassen, ohne den Drang, auf der Stelle dazwischenfahren zu müssen. Selbst Frau Wachtel vergaß ich zeitweilig über den eingemauerten Brüdern und Schwestern. Sich mit fremdem Leid zu befassen erleichterte das eigene. War dies am Ende das Geheimnis der Barmherzigkeit, der sieben guten Werke?
    In den nächsten Tagen ließ ich keine Sendung der >Tagesschau< aus, dann wurden die täglichen Bilder alltäglich. Die Nachbarn blieben weg. Die Verhältnisse waren klar. Es gab ein gutes Deutschland und ein schlechtes; Demokratie und Diktatur. Man lebte im guten Land. Für die im schlechten ging man in den Andachten beten. Oder im Holzschuppen dichten. Aber für eine kurze Zeit hatte ich mich nicht allein gefühlt, hatte dazugehört wie als Kind in der Kirche, Gemeinschaft der Gläubigen, Gemeinschaft der Demokraten, Großmutter, Julchen und Klärchen, Vater und Mutter, der Bruder und ich. Gemeinschaft der freien Welt, von mir bis Konrad Adenauer, von mir bis Kennedy. Doch dieses Gefühl verging schnell, jedenfalls in seiner Heftigkeit, die Trost verleihen kann. Nur wenn ein Fluchtversuch glückte oder mißlang, als der erste Tote im Stacheldraht verblutete, eine alte Frau aus dem Fenster in den Tod sprang, brachte das die freie Welt in der Altstraße noch einmal vor unserem >Schauinsland< zusammen.
    Meine Freiheit bestand weiterhin darin, acht Stunden täglich mit Frau Wachtel in einen Raum gesperrt zu sein, meine Wörter zu verraten, die Buchstaben zu verdrecken und mich abends zu erlösen in immer tieferen Zügen aus der Flasche im Geschenkpapier.
    Sigismund war zurück. Morgen, schrieb er, er könne es kaum erwarten, am

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