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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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lauter wurde, die Gewehrsalven kaum noch abrissen, sagte sie: Lommer bäde und begann einen schmerzhaften Rosenkranz. Was den Vater nicht wenig aufbrachte, denn der wollte dabeisein, beim Weltgeschehen, Kampf und Pulverdampf, Freiheit oder Tod, und er drehte das Radio lauter. Die betenden Stimmen der Frauen wurden zerschossen, von Panzern überrollt. Kardinal Mindszenty, dem das Gebet vor allem gegolten hatte, konnte in die amerikanische Botschaft flüchten, durfte aber das Haus nicht mehr verlassen. Andachten wurden gehalten für den Kardinal, für die im Kampf für Glauben und Freiheit gefallenen Glaubensbrüder und alle anderen armen Seelen. Aber die Kommunisten hatten gewonnen. Allerdings nur für dieses Mal, wie der Pastor nicht müde wurde zu betonen, wir alle müßten wachsam sein und unser Teil beitragen für den Sieg des Glaubens über den Unglauben, der Freiheit über die Diktatur, über Luzifers Reich.
    Auch die Brüder und Schwestern lebten unter den Kommunisten, jedem Gebet für den ungarischen Kardinal wurde die Bitte angefügt, auch unser gespaltenes Volk möge bald wieder zusammenkommen.
    Täglich Tausende, hatte die Frau in der Kantine gesagt. Der Fernseher zeigte Bilder von Frauen, Männern und Kindern, die aus Bahnen stiegen und in Notunterkünften wohnen mußten, gemeinsam in Hallen oder als Familien in winzigen Zimmern. Aber sie schienen glücklich, lächelten bereitwillig in die Kameras, und Freiheit, frei sein, frei, strömte es aus ihren Mündern, als sänge ein jeder von ihnen Töne eines uralten Liedes. Zahlen wurden verkündet wie Lottogewinne: Hundertfünfzigtausend Flüchtlinge, sagte die dunkelhaarige Ansagerin mit der eleganten Kurzfrisur, seien es seit dem ersten Januar gewesen; zwölftausendfünfhundert Flüchtlinge für eine Woche gab sie Anfang August bekannt. Um die zweitausend waren es jetzt jeden Tag. Mutter und Großmutter schüttelten den Kopf. Unbegreiflich, wie man so alles im Stich lassen konnte und mit nix, einfach so, rübermachte, wie die Geflohenen sich ausdrückten, sie hatten rübergemacht, ein Satz, der den Bruder, als er ihn aus dem Mund einer stämmigen Fünfzigerin, die rund und drall in die Kamera guckte, aufschnappte, zu einem unbändigen Lachanfall reizte, rübergemacht, rübergemacht, wo denn rübergemacht, er war nicht zu halten, ahmte mit dem Mund einen Furz nach, hahaha, einfach rübergemacht. Mit nix!
    Überall diskutierte man, was man selber wohl tun würde, gehen oder bleiben? Auch Sigismund im fernen Freudenstadt hatte die >Flüchtlingswelle< erreicht. Mit seiner winzigen Schrift schrieb er mir beinah fünf DIN-A4-Seiten; er mußte große Langeweile haben.
    Seine Ansichten empörten mich. Sie glichen denen der Mutter und Großmutter, denen der Tante, der Nachbarn. Was man von der Freiheit habe, meinte Sigismund, wenn man im Westen vor dem Nichts stünde, bei Null anfangen müßte. Nein, dableiben müsse man und versuchen zu ändern, was einem mißfalle, jeder an seinem Platz. In diesem Zusatz unterschied Sigismund sich von Mutter, Großmutter und den übrigen. Der nächste Absatz vereinte sie wieder. Wer dazu nicht bereit sei, der solle sich fügen,schrieb Sigismund. Wo käme man hin, wenn jeder, dem in seinem Staat etwas nicht passe, abhauen würde. Die reinste Völkerwanderung wäre das. Denen da drüben gehe es nicht um die westliche Freiheit, sondern um den westlichen Wohlstand. Unser Geld. Kopfschüttelnd entsann ich mich unserer Diskussionen, wie Sigismund damals Kohlhaas verteidigte, während ich ihn einen Narren genannt hatte.
    Ich schluckte einen Underberg und schrieb, dem Menschen sei die Freiheit eingeboren wie sein Drang zum Leben. >Der Mensch ist frei geboren, ist frei, und würd' er in Ketten geboren.< Freiheit sei das Geburtsrecht eines jeden Menschen. Daß sich der Adel, ja Adel schrieb Ich, eines Menschen daran erweise, ob er die Freiheit auf Leben und Tod zu erkämpfen bereit sei. Ich schluckte einen zweiten. >Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein<, zitierte Ich meinen Friedrich. »Freiheit sei ihr erst Geläute.< Wie konnte Sigismund einem Käfig das Wort reden, der nicht einmal golden war? In meinem Ich-Kopf rauschten himmlische Heerscharen gegen die Pforten der Hölle und machten das Tor auf, der Panther setzte in weiten Sprüngen aus der Pappenfabrik in die Wiesen am Rhein, Teil schoß Geßler den Kopf vom Hut, und Ritter Delorge warf der Schönen den Handschuh vor die Füße.
    Freiheit, schrieb

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