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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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Ich muß mal. Bin gleich wieder da.
    Ich schloß die Klotür hinter mir ab. Es lag da, als hätte es jemand vergessen: ein Heft mit Abbildungen von Männern und
    Frauen, die Männer auf den Frauen wie Sigismund auf mir. Aber nackt. Beide. Herzklopfen überfiel mich, eine angstvolle Lust, ähnlich der, die ich als Kind beim Anblick gepeinigter Heiliger, gerösteter, gevierteilter, gepeitschter Körper empfunden hatte. Doch rührte die Erregung nicht von den Bildern. Es waren die Wörter, die Sätze, die zur Sprache gebrachten Bilder, die Beschreibung, das Geschriebene, das Gedruckte, die mich überwältigten und in einen Zustand versetzten, wie es wirkliche Berührungen nie vermocht hatten. Der Körper verlor den Kopf. Der Kopf verlor den Kopf. Der Kopf war besiegt. Meine Augen entzündeten sich an den Wörtern, Wörtern von der Scheunenwand, Wörter von den Frauen bei Maternus, schmutzige Wörter, verbotene Wörter; ich sah sie zum ersten Mal gedruckt, saubere Buchstaben, rechtschaffene, rechtmäßige Lettern, und erschauerte von dem Reiz ihres Letternleibs.
    Draußen wurde an die Tür gehämmert. Ich riß das Blatt aus dem Heft, steckte es in den Schuh, drängte Sigismund beiseite, schlug die Haustür hinter mir zu.
    Die Nackten schnitt ich ab und warf sie ins Plumpsklo. Zu den Underbergflaschen. Dann erprobte ich die Vermählung von spiritus verde mit meiner Rubrik, wie ich das Gedruckte aus dem Fotoheft für mich nannte. Die Wörter drangen in mich ein, und ich öffnete mich ihnen, bis ich den Laut des Wortes von der Scheunenwand zu spüren glaubte.
    Es bedurfte dreier Zettel von Sigismund, in denen er immer aufs neue erklärte, weshalb er an dem Abend einen Bademantel getragen habe, bis er mich zu einem Wiedersehen bei den Pappeln überredet hatte.
    Vergebens. Ohne meine Wörter, meine gedruckten Wörter vor Augen, fühlte ich nichts. War mir dieses Aufeinanderprallen zweier Körper widerlich. Meine Erregung kam nicht aus dem Körper. Sie kam aus dem Alphabet, den Buchstaben. Und daß ich mir nichts Genaues darunter vorstellen mußte.
    Dennoch traf ich Sigismund weiter. Ich bildete mir ein, Macht über ihn zu haben, bildete mir ein, diese Macht zu genießen. Nie ohne immer tiefere Züge aus der Flasche im Geschenkpapier, längst einer zweiten, dritten.
    Bötschs Busse fuhren seit Wochen wieder nach Düsseldorf ins Schauspielhaus. Sigismund hatte mich noch nicht einmal eingeladen. Im Glaskasten beim Friedhof hing das Plakat zum >Sommernachtstraum<.
    Nein, antwortete Sigismund brüsk, als ich ihn fragte, ob er Karten habe. An diesem Abend sei CVJM.
    Dann fährst du ohne den, sagte Lieschen Bormacher, als ich ihr den neuen >Michaelskalender< brachte. Ich kaufte bei Bötsch den billigsten Platz, ein Vermögen, elf Reclamheftchen mit einem Punkt.
    Sigismund saß ganz hinten, auf einem unserer Stammplätze. Er sah weg, als ich auf ihn zuging. Ich wollte mich neben ihn setzen. Er legte die Hand auf den Platz.
    Den muß ich freihalten, sagte er gereizt. Was machst du denn hier?
    Für wen denn? fragte ich entgeistert. Ich denke, du bist beim CVJM?
    Aller Augen folgten ihr, als sie, die blonden Haare in Kaskaden aufgesteckt, den Gang entlangtänzelte, ehe sie sich, den nachtblauen, weitschwingenden Seidenmantel zusammenraffend, auf den freien Platz neben Sigismund gleiten ließ: Beate Maternus, die Tochter von Dr. Dr. Maternus KG, deren Kuchen vom Fest für die Arbeiterkinder ich vor Jahren der Katze gefüttert hatte. Sigismund rutschte tiefer in seinen Sitz, die roten Ohren brannten. Ich hörte die helle Stimme Beates, die etwas auf französisch sagte, was ich nicht verstand, Sigismund antwortete, Beate brach in ein noch helleres Lachen aus, vornehm perlende Töne. Der Fahrer warf den Motor an, gab Gas, erlöste mich von den Stimmen. Aber mit zunehmender Dämmerung neigte sich der Haarturm immer kühner auf Sigismunds Seite, nur die Sorge um die Frisur verschob die innige Anlehnung auf die Heimfahrt. Hören mußte ich die beiden nicht mehr; die Augen konnte ich schließen. Dem Geruch blieb ich ausgesetzt. Es war ein schweres, kostbar duftendes Parfüm, gar nicht vergleichbar dem unschuldigen >4711< in den Taschentüchern von Mütter und Großmutter und bei Ohnmächten auf die Stirn; dem altjüngferlichen Geruch von >Mouson Lavcndel<; unvergleichbar auch dem gewagteren >Farina gegenüber oder gar >Tosca<. Beates Duft erin-nerte an die Wässerchen der Cousinen: >Zigeunerin< oder >Blaue Rose<, im geschliffenen Flakon und mit

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