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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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mich an die Belagerung des Gemeindehauses. Umkreiste das Gebäude in wachsenden und schrumpfenden Ringen, verschnaufte eine Weile hinter den Mülleimern, auch trieben mich die Bohnen noch einmal nach Haus. Sigismund kam als einer derletzten. Mein Herz klopfte, daß ich von den Mülleimern abrückte, fürchtend, die Deckel könnten zu klappern anfangen. Hatte ich je etwas Schöneres von der Seite gesehen als eine beige Hose, blaue Windjacke, rote Ohren, schwarzes Haar?
    Nach anderthalb Stunden kamen die ersten heraus. Als Sigismund bei den Pappeln eintraf, war ich noch außer Atem. Reiner Pfefferminzatem. Sigismund legte sein Rad neben meines, unsere Räder im Grün vergraben, die Lenker staken wie Hörner heraus. Von der Wiese wehte der Geruch von Schafdung und Kuhfladen herüber, rot strömte die untergehende Sonne in den Rhein, ein paar Wolken leckten das letzte Licht aus den Pappelspitzen, Möwen kreischten und berührten mit ihren Flügeln die Wogen im Flug, golden blitzte es aus der Ferne vom Hölldorfer Kirchturm. Lange Zeit hatte ich gedacht, auf allen Kirchtürmen säße der Heilige Geist, Gott in Gestalt einer Taube, und ich hatte vor Enttäuschung geweint, als ich erfuhr, daß die heilige Taube nur ein Messinghahn war.
    In den vergangenen Tagen hatte ich mir eine Rede zurechtgelegt, wie sie überzeugender nicht der Teufel seiner Großmutter hätte halten können. Stichpunkte und eine Gliederung wie für einen Besinnungsaufsatz hatte ich mir gemacht, beginnend mit Trudis Fehltritt, über die Begegnung mit den Brüdern, den Besuch bei den Eltern, gipfelnd in Ausführungen zu Anstand und Menschenliebe im allgemeinen.
    Na endlich, sagte Sigismund. Zwei Buchstaben zuviel. Sie verkehrten das sehnsuchtsvolle >Endlich< in eine schulmeisterliche Rüge. Doch hätte ich ihm diese eine Silbe gern vergeben, hätte er mit den nächsten nach mir gefragt, mich nur einen Augenblick zu Wort kommen lassen, hätten wir miteinander geredet und einander zugehört.
    Statt dessen sagte er: Na endlich, und tat, was in den Büchern heißt: Riß sie in die Arme und verschloß ihr den Mund mit Küssen. Sigismunds spitzer Unterbiß grub sich in meine Unterlippe, ein Bein drängte sich zwischen die meinen, es zuckte in meinem Fuß, das Bild des Hölldorfers schoß durch meinen Kopf, schoß in meinen Fuß. Aber das war doch Sigismund, der Langersehnte, Erwartete, der mir die Luft abschnürte, mich schmerzhaft umklammerte, meinen Körper bedrängte.
    Bei der ersten Berührung hatte ich die Augen geschlossen, wenn schon nicht Worte, so doch Einverständnis erwartend, das vertraute Zögern, die allmähliche, gegenseitige Überwindung der Schüchternheit, das gemeinsame Suchen, Erkunden der anderen Haut. In Panik riß ich die Augen auf. War das wirklich Sigismund und kein anderer, dessen Knie mir die Beine zu spreizen versuchte, der mich übers Kreuz bog, bis ich das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Sigismund roch wie der Vater, wenn er das Stöckchen hinter der Uhr hervorgeholt, als er die Klammern zerquetscht hatte. Auch seine Augen hatten denselben Ausdruck, sahen mich an, aber meinten nicht mich, sahen durch mich hindurch, dahin, wo sie sich selbst verloren, endlich einmal loskamen von sich selbst.
    Sigismund, schrie ich, als er für Sekunden schnaufend seinen Zubiß lockerte, doch er ließ keinen Namen mehr gelten, meinen nicht und nicht seinen, das Namenlose hatte von ihm Besitz ergriffen. Mich brauchte er nur, um diesem Namenlosen zu willfahren, wie der Vater kein >Papa!< mehr hatte gelten lassen, kein >IchbinkleinmeinHerzistrein<, wenn es ihn überkam.
    Gut, daß an meiner Hose der Reißverschluß klemmt, dachte ich, dann lag ich auf dem Rücken, krampfte den Blick in die Pappelkronen und ließ die sanfte Betäubung >eines Herbsttags, wie ich keinen sah, die Luft ist still, als atmete man kaum< durch meinen Kopf kreisen, beide Strophen, wieder und wieder, bis Sigismund mit einem Aufschrei von mir abließ. Beim Versuch, den kaputten Reißverschluß zu öffnen, hatte er sich den Daumen in die Sicherheitsnadel, die den Hosenbund zusammenhielt, gerammt. Er wälzte sich von mir. Ich richtete mich auf. Stumm saßen wir nebeneinander, und ich wartete, wie ich als Kind nach den Schlägen gewartet hatte, bis der Kopf sich wieder sicher wußte, wahrnahm, daß der Körper es überstanden hatte, die Gefahr vorüber war und das Fleisch sich wieder beseelte.
    Sigismund legte seinen Arm um mich. Ich schüttelte ihn nicht ab. Ich rannte nicht weg.

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