Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
Vom Netzwerk:
Macht. Dat es jeliefert, sagte die Mutter, wenn eine von einem nicht loskam oder einer Bankrott machte. Jeliefert sin. Ausgeliefert sein. Ich kannte das Warten aus den Büchern. Oft war es mir übertrieben erschienen. Doch ich hatte das Leiden der Wartenden und mein Mitleiden genossen, das zur schönen Sprache gebrachte leidvolle Warten, wo der geliebte Mensch in seiner Abwesenheit so sehr vorhanden ist wie kaum in seiner Anwesenheit. Jeder wartete auf seine Art. Manches wiederholte sich, so, wie ein Leben glücken oder fehlschlagen, ein Sterben schwer oder leicht sein kann, beides mit unendlich vielen Abstufungen. So auch das Warten.
    Wundervoll ist das Warten in Gewißheit und Einverständnis. Sie sitzt auf der Bank unterm Weißdornstrauch am Feldrain, er kommt mit der Droschke, dem Fahrrad, dem Zug, sie weiß, er kommt, er weiß, sie wartet, da sieht sie die Gestalt am Horizont, da lehnt er seinen Oberkörper aus dem Zugfenster, sie sehen einander, erkennen sich, Warten als Vorfreude. Welch ein Genuß im Vorerleben des Genusses, der Berührung im Kopf, Funkenflug vorweggenommener Erlösung, ehe die Körper in ihrer groben Wirklichkeit zusammentreffen.
    Weit öfter las ich vom Warten in Qual. Immer mit Ungewißheit verknüpft; oft mit Gewissensqualen. Böse Worte hat man dem zu Erwartenden gegeben, ihn sogar fortgeschickt. Hat er verziehen? Will er kommen? Wird er Hürden und Gefahren, die ihm den Weg versperren, überwinden können? Feuer und Ungewitter, Eltern oder Eheweib ? Warten, durchtränkt von Ungewißheit und Selbstzerfleischung, Fegefeuer.
    Erst Jahre später las ich von Menschen, Lenchen oder Abel, die mit geschnürten Bündeln hinter verschlossenen Türen oder Verschlägen im Dunkeln den Atem anhalten, wartend auf Schritte, die sich nähern, entfernen, Stiefelschritte, Tritte, Gewehrkolbenschläge an diese Tür oder die Tür nebenan. Warten, gegen das die bittersten Leiden der Liebenden sich wie Fingerübungen ausnehmen. Kommt die Liebe nicht, mag das Herz ihnen brechen. Kommt der Stiefel, bricht das Genick. Warten auf Ankunft. Warten auf Vorübergehen.
    Doch wenn ich nach der Arbeit aufs Fahrrad stieg, half mir mein Wissen um das Warten in den Büchern nichts. Ich fuhr von einer Unfreiheit in die andere. Ich war frei wie ein hungriger Hund auf der Jagd nach einem Knochen. Vor meinen Augen Sigismund - Sigismund auf dem Fahrrad von hinten, erst klein, dann im Heranfahren des Mopeds größer werdend, lebensgroß, beige Hose, blaue Windjacke, schwarze Haarkappe.
    Grüner Geist machte alles noch unerträglicher. Schärfer und gieriger noch spürte ich den Vermißten, wähnte ihn zu hören, zu sehen, zu riechen. Bei den Haselnußbüschen, die in diesem feuchten Jahr nur spärlich trugen, wartete Ich, an mein Fahrrad gelehnt. Einen fernen Punkt auf dem Feldweg fixierend, auf dem Sigismund kommen würde, kommen mußte, glitt Ich aus meiner Umgebung, hinein in eine Wirklichkeit, in der die wirklichen Dinge verblaßten und andere an ihre Stelle traten, Dinge, nackt bis in ihren Herzschlag hinein, Herzschlag meines Atems oder des ihren, meine Lungen antworteten dem Herzschlag der Dinge, der Dinge meines Herzens. Auf dem Heimweg fuhr ich an Sigismunds Haus vorbei. In seinem Zimmer brannte Licht. Nie wieder würde ich geringschätzig die Achseln zucken, wenn ich von Menschen läse, die sich im Warten verzehrten.
    Am Freitag kam der Zettel: Samstag nach dem CVJM-Treffen am Notstein bei den drei Pappeln. S. Die dürren Worte wirkten wie ein grüner Schluck. Ich küßte den Bruder schallend auf die Wange. Die wirkliche Welt war schön; ich ein Teil von ihr, so gut wie Sigismund, der Bruder, die Eltern, Großmutter, Tanten, Verwandte und unser kranker Nachbar auch.
    Nachts schlief ich kaum. Wann war das CVJM-Treffen zu Ende? Fand es nachmittags statt? Am Abend? Am Samstagmorgen machte ich mich auf zum evangelischen Gemeindehaus. Das Foto im Glaskasten zeigte eine Gruppe junger Männer in weißen Turnhemden und kurzen, schwarzen, schlotterigen Hosen vor einem Gewässer. Ich sah das Bild an, als könne mein Blick den Kasten öffnen, und heraus spazierte der zweite von links in meine Arme. Die Haustür ging auf, eine Frau schüttelte eine Fußmatte aus und dann noch eine. Ich traute mich nicht, sie nach dem Treffen zu fragen.
    Zu Hause schlang ich die Bottermelchsbunne hinunter, weiße Bohnen, in Buttermilch weichgekocht, mit viel rohen Zwiebeln, eine Spezialität der Großmutter. Kippte einen Kräutergeist und machte

Weitere Kostenlose Bücher