Das verborgene Wort
Ich blieb sitzen. Die Hand auf meiner Schulter tat mir gut. Die Hand auf meiner Schulter konnte ich in meinem Kopf unterbringen, der langsam aus dem >Herbsttag, wie ich keinen sah< wieder auftauchte. Die Hand auf meiner Schulter konnte ich mit dem Jungen zusammenbringen, der ne-ben mir saß. Die Hand auf meiner Schulter hatte mit dem, der mich zu Fall gebracht, auf mir gelegen, seine Hände überall gehabt hatte, nichts zu tun. Die Hand auf meiner Schulter gehörte einem, der einen Namen hatte.
Siggi, sagte ich leise, als ich die Wärme seiner Haut durch den Stoff meiner Bluse spürte. Wo warst du so lange?
Und du, gab er zurück. Wo warst du am Sonntag?
Ob er mir am Ende glaubte, ich wußte es nicht. Aber er hatte mich, während ich erzählte, die ganze Zeit gestreichelt, meine Schulter gestreichelt, gedankenlos, gedankenverloren, wie einen Hund. Das tat wohl. Es war, als striche diese, Sigismunds Hand von mir ab, was die namenlosen Hände mir zuvor angetan hatten, als könnte diese Hand, die streichelnde Hand, mich vor den drohenden, drängenden Händen beschützen. Als ich ihn fragte, was er in Freudenstadt erlebt hätte, zog er seine Hand von meiner Schulter zurück und murmelte: Nichts für kleine Mädchen.
Ich sehnte mich nach meinen Geistern.
Schau mal, wie schön, sagte ich, ergriff Sigismunds Hand und deutete auf den Rhein. Die Dämmerung durchflutete die Luft wie graue Seide, verwischte die Ränder zwischen Ufer und Strom, in dem sich das Rosa des Abendhimmels spiegelte.
Es wird kühl, sagte Sigismund. Ich muß vorsichtig sein. Er zog mich hoch. Wir standen Hand in Hand. So hätte der Abend anfangen sollen. Ich machte mich los. Zu Hause wartete der grüne Geist.
In meinem Holzstall schrieb ich Sigismund einen langen Brief, erzählte von meiner Zeit in der Pappenfabrik, von Frau Wachtel, Dr. Viehkötter und dem Labor, und wie ich mich auf ihn, Sigismund, gefreut habe, auf ihn, den einzigen Menschen, mit dem ich reden konnte. Als Antwort kam ein Zettel mit Ort und Datum für ein Treffen.
Wieder drang Sigismund auf mich ein, als gelte es, den Feind in die Flucht zu schlagen, erobern, fuhr es mir durch den Kopf, eine Frau erobern. Kaum blieb mir Zeit, meine Seele in Sicherheit zu bringen, >Füllest wieder Busch und Tal<, seine Hände wagten sich unter Bluse und Hemd, »still mit Nebelglanz, lösest endlich auch einmal.. .< Als der Büstenhalter aufging, war meine Seele schon unerreichbar. Ich kam bis Strophe drei. Da bäumte Sigis-mund sich auf, stöhnte, wie ich es einmal bei Doris gehört hatte, und rollte sich von mir herunter. Durch seine beige Hose schlug ein dunkler, nasser Fleck. Es roch nach Waschküche, nach heißer, dreckiger Lauge. Mit dem Fleck wuchs meine Angst. Et es en Sekond, das Wort auf der Scheunenwand, die Wörter im Lexikon.
Sigismund hatte es eilig. Das Streicheln entfiel.
Bis übermorgen, sagte er, ehe er davonfuhr, wieder hier. Es war keine Bitte. Es war ein Befehl. Das blaue Stöckchen hinter der Uhr.
Mit der Zeit entwickelte Sigismund eine beträchtliche Geschicklichkeit, unsere Kleidungsstücke zu schonen. Sobald seine Zuckungen einsetzten, wälzte er sich von mir ab und auf den Rücken, riß den Reißverschluß seiner Hose auf und klemmte ein Taschentuch zwischen die Beine. Dann saßen wir Schulter an Schulter noch eine Weile zusammen, und ich empfing meine Streichelbelohnung. Wir schwiegen oder sprachen Belanglosigkeiten. Nie mehr gelang es mir, Sigismund in ein Gespräch zu ziehen, ob ich nun die Rede auf einen besonders wagemutigen Fluchtversuch aus der Zone, Benn oder Camus oder auf die Leistungen der Chinesen beim Tischtennis brachte, Sigismund blieb einsilbig, stumm.
Dann kam der Zettel, mit dem er mich zu sich nach Hause bestellte. Er würde den Kürbis mit einer Kerze ins Fenster rücken, sobald der Vater fort sei; die Mutter sei verreist.
Es dämmerte, als der Kürbis, eine totenkopfähnliche Fratze, endlich aufleuchtete. Sigismund stand schon in der Tür. Im Bademantel. Schob mich in sein Zimmer und machte sich, nach einem verdrossenen Blick auf meine Bekleidung, an dem Reißverschluß meiner Hose zu schaffen. Seit dem Stich meiner Sicherheitsnadel hatte er das nie wieder versucht. Dieser Reißverschluß war intakt, keine Nadel, nirgends, keine Sicherheit, durch meinen Kopf rasten die Gestrauchelten aller Bücher und Zeiten, vor meinen Augen stand Trudi in fliederfarbenem Jäckchenkleid, stand die Mutter, Et es en Sekond.
Augenblick, sagte ich, eine Sekunde.
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