Das verborgene Wort
womöglich etwas springen ließen. Ich war doch nur ein Kind. Die zehn Pfennige brauchte ich für die Rückfahrt.
Im schmalen Flur hing ein Kreuz überm Eingang, dem dornengekrönten Haupt klemmte ein Buchsbaumzweig hinterm Kopf. Wie bei uns. Unsere Küche war groß, unser Wohnzimmerklein. Hier war es umgekehrt. Beide Fenster standen weit offen, ein leichter Windzug bauschte die Stores, die in dichten Falten bis auf den Boden fielen. Unsere Gardinen reichten gerade bis zur Fensterbank, damit es von draußen ordentlich aussah.
Das Zimmer war kahl. Kein Sofa und keine Sessel, keine Bilder an den Wänden. Ein kleiner Schrank, dessen Tür schief in den Angeln hing, ein Vertiko mit abgeplatztem Furnier. In der Mitte des Raumes stand der gedeckte Tisch, festlicher als bei uns zu Ostern oder Weihnachten. Die weiße Tischdecke reichte bis auf den Boden und war über und über mit bunten Blumen und grünen Blättern bestickt, als blühte ein Gartenbeet aus dem grauweiß gefleckten Linoleum. Im Zimmer duftete es nach Zimt und Vanille, Kirschen und Streuseln. Zu Hause hätte Irenes Mutter die Bäckerei der Eltern übernehmen sollen. Ihr Mann hatte dort gelernt, war aber kurz vor der Meisterprüfung eingezogen worden. Er war vermißt. An der Ostfront. So gut wie tot. Weder bei Rademachers Köbes noch bei Striebels Erwin hatte Beten geholfen. Ihre Frauen hatten die Männer schließlich für tot erklärt. Das sei besser für die Rente, hatte die Tante der Mutter erklärt. Auch hier lief ein schwarzes Querband über das Bild des Soldaten im Silberrahmen, das neben dem Foto zweier junger Mädchen in Trachtenkleidern stand. Es zeigte Irenes Mutter und ihre Schwester vor einem dreigeschossigen Haus mit gedrehten Säulen, einem dickbauchigen Balkon und einem großen Schaufenster im Erdgeschoß. Zwei stämmige, halbnackte steinerne Männer entrollten über dem Eingang eine Schrift: F. F. Backwaren Wentzel Dombrowski. Das Haus war größer als beide Dondorfer Bäckereien und Piepers Laden dazu. Und das war Irenes Zuhause gewesen. Dort war sie geboren. Dort würde sie jetzt wohnen, wären nicht die Russen gekommen.
Neben den beiden Fotos stand ein hölzerner Mann mit hoher, schwarzer Mütze und einem Loch als Mund. Das ist ein Bergmann, erklärte Irene. Und ein Nußknacker. Ich war entzückt. Ein Bergmann, der ein Nußknacker war, ein Nußknacker, der ein Bergmann war. Märchenhaft. Und was für sonderbar fremde Gewächse streckten sich aus dieser glitzernd geschliffenen Vase! War das möglich? Nichts als Unkraut steckte in diesem Kristall, ein bißchen Rainfarn und wilde Möhre, Schafgarbe,
Kamille, Wermut, sogar eine lila Distel, alles vom Schuttplatz da draußen. Unkraut, sonst nichts. Aber wie kostbar das aussah, wie verwandelt. Ja, Hildegard, Irenes Mutter legte mir die Hand auf die Schulter, sicher habt ihr ganz andere Blumen im Garten. Aber die hier sind doch auch schön. Was meinst du? Ich nickte ertappt. Irenes Mutter sprach beinah Hochdeutsch. Kein richtiges wie der Herr Pastor. Dafür kamen die Wörter zu knorrig und mühsam aus ihrem Mund. Aber sie sagte meinen Namen mit einem klaren G.
Ich zählte drei Gedecke. Kam kein Erwachsener mehr? Hatte sich Irenes Mutter nur für mich soviel Mühe gegeben? Später erfuhr ich, daß sie den Tisch nie anders deckte. Vor mir standen ein Kuchenteller und eine Kaffeetasse mit passender Untertasse. Untertassen gab es bei uns nur, wenn Besuch kam; passende Untertassen nur bei Familienfesten. Dann wurde das Service aus dem Schiebeschrank unter der Fensterbank geholt und gespült. Es war mit Stiefmütterchen und Alpenveilchen bemalt. Kräm nannte die Mutter die blaßgelbe Farbe. Sie hatte es von der Bürgermeisterfamilie zur Hochzeit gekriegt. Dat kris du ens zur Huzick, Hochzeit, pflegte sie mit Verschwörerblick zu mir zu sagen, wenn wir die guten Stücke nach jedem Gebrauch einzeln in Seidenpapier wickelten und vorsichtig verstauten. Auch Kuchengabeln lagen bei Irene neben den Tellern und Servietten, weiß und fein wie das Taschentuch, das die Mutter mir an Fronleichnam vor der Prozession in das Bündchen vom Kleiderärmel steckte. Ich wagte kaum zu essen. Der Kakao hieß Schokolade und die Klümpchen Bonbons, wie bei Bürgermeisters. Als ich aufs Klo mußte, wußte ich nicht mehr weiter. Mir fehlten die Worte. Esch jank ens drieße, sagte der Vater. Ich möchte austreten, paßte für die Schule, wo man dazu hinaus auf den Hof ging. Wohin sollte ich in diesem Häuschen austreten? Auch
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