Das verborgene Wort
meine Bücher ließen mich im Stich. Büchermenschen mußten nie aufs Klo. Unglücklich rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her. Komm, Hildegard, ich zeig dir das Bad, sagte Irenes Mutter. Wieso das Bad? Machten Müppen in die Badewanne? In dem kleinen blaßgrün gekachelten Raum verschlug es mir die Sprache erst recht. Unter dem ovalen Klappfenster stand die blendendweiße Wanne, daneben das Waschbecken mit zwei Hähnen. Ge-genüber das Klo. Aus weißem Porzellan, darauf ein schwerer Deckel aus Holz. An der Wand ein Kasten mit einer Metallkette zum Ziehen. Ein Wasserklosett. Und das sollten Müppen sein? Ich machte gleich beides, Klein und Groß, genoß den Druck des glattpolierten Holzrandes auf Oberschenkel und Gesäß, sog die Luft ein, die nach Lavendel roch, und wusch mir die Hände, kalt und heiß, bis sie schmerzten.
Im Wohnzimmer hatte Irenes Mutter das Radio eingeschaltet. >Machen wir's den Schwalben nach, bau'n wir uns ein Nest<, sang eine hohe Frauenstimme verführerisch, daß man am liebsten auf der Stelle nach Federn, Blättern, Strohhalmen aufgeflogen wäre. Irenes Mutter trällerte mit. Schalt die Märl [32] äff, hieß es zu Hause, wenn aus dem Radio anderes kam als Nachrichten, Wetterbericht, Kirchenfunk; heilige Messen aus Domen und Kathedralen, Andachten und geistliche Ansprachen. Sonntags hatte ich eine halbe Stunde Kinderfunk durchgesetzt. Eduard Marks erzählt Märchen, >Der kleine Prinz und die Schwalbe<, Sängerkrieg der Heidehasen<, >Prinzessin Sara<. >Er fliegt nach dem Süden hin, und sie bleibt im Nest<, sang die Frauenstimme. Irenes Mutter verbeugte sich vor ihrer Tochter, die aufstand und von ihrer Mutter um Taille und Schulter gefaßt wurde, so, wie die Männer die Frauen auf dem Schützenfest anfaßten. Irenes Mutter tanzte mit ihrer eigenen Tochter! Ausgerechnet Bananen<, beschwerte sich jetzt ein singender Mann, >Bananen verlangt sie von mir<. Ausgelassen wie Karnevalsjecken hüpften Mutter und Tochter zwischen Tisch und Vertiko hin und her und winkten mir: Mach mit! Ich schlackerte mit Armen und Beinen und tat so, als sei ich fröhlich. Zu Hause erzählte ich vom Kuchen und vom Klo, aber gehört wurde nur eines: Die stoppe Unkruck en de Blomevas, sujar Distele. Arme Müppe.
Jedes Vierteljahr kam am ersten Mittwoch im Monat der Wäschemann. Auch als man längst Kabinenroller und Käfer fuhr, reiste er mit Bussen und Straßenbahn aus Ronningen an. In derwarmen Jahreszeit liefen wir Kinder ihm schon von weitem entgegen: Der Wäschemann kütt! Der Wäschemann kütt! Mittelgroß, mitteldick, mittelalt, im mittelgrauen Anzug bog er von der Haltestelle in unsere Straße ein, mit schleppendem Gang und krummem Rücken, der sich jugendlich straffte, sobald am Fenster oder in der Tür eine Frau erschien. Hätte er einen Schnurrbart getragen, er hätte ihn gezwirbelt. So aber hob er nur die schweren Koffer bis zu den Hüften, als wäre es nichts, trug sie in unser Haus, federnden Schritts die drei Stufen hinauf, und lächelte. Das übernatürlich exakte Gebiß mit seiner tiefroten Plastikfassung bildete einen herausfordernden Kontrast zum blaßrosa Zahnfleisch, wenn er grinsend die Oberlippe hochzog. Was er für ein verführerisches Lächeln hielt, breitete einen Ausdruck von Falschheit über die ganze Person. Rosig konnte er sich kaum stehen, wäre er sonst mit seinen Koffern über die Dörfer gezogen, zu Mutter und Großmutter, Tanten und Nachbarinnen, die das Geld für eine >Garnitur<, einen Bettbezug und ein passendes Kopfkissen, monatelang groschenweise in einer abgestoßenen Sammeltasse zusammentrugen oder sich mit dem Erlös ihrer Rabattsparbücher das neue Korsett, einen neuen Kittel finanzierten. Das alles schaffte der Wäschemann in seinen Koffern herbei. Wir verreisten nie, und so glaubte ich lange, Koffer seien für den Transport von Bett-, Tisch- und Unterwäsche bestimmt.
Die Tante war schon da und die beiden Cousinen, Julchen und Klärchen, Piepers Gerda und Piepers von nebenan. Mutter und Großmutter hatten sich die Halbschürzen, die sie gewöhnlich über den Kitteln trugen, hastig abgebunden und hinter die Küchentür gehängt. Was fanden die Frauen nur an diesem Mann? War es, daß er in Schlips und Kragen kam und im Anzug, immer im Sonntagsstaat? Daß er den Hut in weitem Bogen vom Kopf nahm, und zwar für jede einzelne? Guten Tag, Frau Kringli, und Hand an den Hut und mit einer Verbeugung in weitem Bogen nach unten bis vor den Bauch und wieder hinauf auf den Kopf.
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