Das verborgene Wort
nach Düren gerufen worden war. Der Fremde war ein kräftiger, kurzer Mann. Die Soutane spannte über der Brust, und seine Hand suchte dem Hals, da, wo der weiße Rand des Priesterhemdes tief in den fleischigen Nacken schnitt, immer wieder Erleichterung zu verschaffen.
Wartet hier, Kinder, trat er zu uns, ich bin gleich wieder da. Dann gibt es eine Belohnung für so fromme Kinder.
Meine Knie waren taub. Meine Oberschenkel verkrampft. Mein Herz voller Haß auf Irene. Und nun das. Eine Belohnung. Der Kaplan kam zurück, hatte Soutane und Kasel in der Sakristei abgelegt.
Kinder, sagte er. Wir steigen auf den Glockenturm. Überwältigt blickten wir einander an; jede wußte, daß sie dieses Wunder nur dem Trotz der anderen verdankte. Freundlich fragte der Kaplan nach unseren Namen und den Eltern, und wir folgten ihm durch den Aufgang zur Empore. Von hier sahen Kirchenschiff und Altar aus wie ein Foto in der Kirchenzeitung. Bis hierher gab es bequeme Holzstufen, dann mußte man beinah senkrecht auf einer engen Eisenleiter nach oben klettern.
Der Kaplan hieß Irene voranzusteigen. Er folgte mir. Es gab kein Ausweichen nach rechts oder links. Kein Ausweichen vor dem, was mir plötzlich in die Kniekehlen stupste. Rechts, links, rechts, links, preßte sich etwas in den Kniekehlen ein. Ich umklammerte die kantigen Holme der Leiter, versuchte, die Beine schneller zu strecken, zu beugen. Doch vor mir tat Irene vorsichtig Schritt um Schritt. Das, was da an meinen Kniekehlen stocherte, rechtes Knie, linkes Knie, rechtes Knie, linkes Knie, paßte sich meinem Tempo an. Hinter mir atmend in schweren Stößen der Aushilfskaplan. Endlich setzte Irene den Fuß auf die Plattform des Glockenturms, schon strömte Licht durch die spitzen Bögen in den dämmrigen Aufgang, als dieses Etwas in meiner Kniekehle aufzuckte, hochpeitschte, ein nasser Stoß. Dann ein Taschentuch, hastig und rauh, ich war oben, gefolgt vom Aushilfskaplan, der auf die Uhr sah und nach dem Glockenseil griff. Seine Lippen formten das >Ave Marias seine Stimme ging in den Glocken unter. Irene und ich beteten mit, drei >Gegrüßet seist du, Maria<.
Ich hatte Zeit, in das weite Land zu sehen, über die Kohl- und Porreefelder, über Auen und Pappeln, den Damm und die struppigen Wiesen und Weiden dahinter, über den Rhein und über den Rhein hinaus, über das Fährhaus >Piwipp<, über Kämpen und Felder bis an den Himmelsrand. Die Sonne, eine große, runde Scheibe, versank im Strom wie eine blutgetränkte Hostie. Am Himmel blieb noch lange eine breite Spur, eine Allee aus rotem Lehm über den Pappeln. Menschen sah ich keine, aber Schiffe, den Rhein hinunter nach Rotterdam, wo das Meer beginnt.
Zu Hause rannte ich gleich hinter den Schuppen, verrenkte mich, bis ich meine Kniekehlen sehen konnte. Vollkommen normal.
Wat küss de so spät, wo bes de jewäse, herrschte mich die Großmutter an.
Mit dem Herrn Kaplan auf dem Jlockenturm, antwortete ich.
Jelobt sei Jesus Christus, rief sie und schlug begeistert die Hände zusammen.
Später, als ich mein Kleid über den Kopf zog, fiel mir am Saum etwas Weißes auf. Es klebte dort wie die Schaumklümpchen, die sommers an den Gräsern in den Wiesen hängen und die wir Kinder Kuckucksspucke nannten.
Irene wohnte in der Siedlung. Sie war ein Müpp. In gehörigem Abstand zum Dorf hatte die Gemeinde auf freiem Feld kleine Reihenhäuser für Flüchtlinge gebaut. Irenes Mutter hatte bei meiner den >Michaelskalender<, das >Bonifatiusblatt< und den >Hünfelder Boten< bestellt und trat dem Frauenverein bei. Da hielt es meine Mutter nicht mehr aus. Ich sollte sie besuchen, spingsen*.
Zu Irene mußte man mit der Bahn fahren. Sach fünf, wann dä Schaffner desch fröt, wie alt de bes, hatte die Mutter mir jedesmal eingeschärft, wenn wir nach Großenfeld oder Rüpprich zu den Verwandten gefahren waren. Ich blieb fünf, bis ich sieben war. Wäre es auch noch länger geblieben, hätte ich nicht auf der Fahrt zum falschen Großvater lauthals die Aufschrift des Fahrscheins buchstabiert: Rheinisch-Bergische Verkehrsbetriebe, zwei Teilstrecken. Dat Kind kann ja schon lesen, der Schaffner musterte uns argwöhnisch, wie wir dasaßen in unserem Sonntagsstaat aus den Rot-Kreuz-Säcken der Honoratioren, die Mutter rot vor Scham, die Tochter rot vor Stolz. Ja, krähte ich, Rheinisch- Bergische Verkehrsbetriebe, zwei Teilstrecken. Wat is dat, Teilstrecken? Zwei henger de Löffel, knurrte der Vater. Die Mutter schaute aus dem Fenster, als ginge sie
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