Das verborgene Wort
Belohnung, wenn wir Gottes Willen erfüllten, artig und brav. Ich hätte ihm gerne geglaubt. Wäre nicht das vierte Gebot gewesen, Eltern und Vorgesetzte. Ich war ungehorsam und wollte es bleiben. Ich gab Widerworte und wollte das weiterhin tun. Ich wünschte meinen Eltern Böses. Das war nicht recht, aber gerecht. Doch ohne Reue und guten Vorsatz war jedes noch so gewissenhafte Anhäufeln von gebeichteten Sünden für die Katz. War man nur aus Angst vor Strafe zerknirscht, hieß das Furchtreue; das genügte, war aber nicht viel wert. Liebesreue sollte es sein, die Trauer, Gott gekränkt zu haben.
Jeden Samstag kniete ich, Beichtkind, im Seitenschiff derneuen Gereonskirche, vor mir der Marienaltar, mir zur Seite die Kirchenfenster mit den sieben Werken der Barmherzigkeit und den beiden Beichtstühlen. Im flackernden Licht bußfertiger Kerzen erforschte ich mein Gewissen, erweckte Reue, flüsterte meine Sünden hinter den violetten Vorhang, hörte das >Ego te absolvo<, betete meine Buße und sah meine Seele, ein wolkenförmiges Gebilde hinter den Rippen im Brustkasten, weiß und glänzend sich ausbreiten. So eine Seele trug mich glühend, wärmend durch den Samstagabend, durch die Nacht, durch die Kindermesse bis in den Nachmittag, wo sie auf dem Spaziergang mit den Eltern bereits an Glanz verlor. Im Lauf der Woche verdüsterte sie sich mehr und mehr wie unter dem Einfluß eines heraufziehenden Tiefs.
In diesen Apriltagen war es ungewöhnlich warm. Ich hatte die langen Wollstrümpfe bis zu den Waden heruntergerollt. Kräftiges Nachmittagslicht fiel durch die bunten Fensterscheiben, ließ das senffarbene Brot, das eine lang aufgeschossene blaugraue Frau einem verrenkten Bettler hinabreichte, überirdisch erstrahlen, wanderte weiter auf das rosa Hemd, das eine andere Frau einer Gestalt im Bett umhängte, blitzte über ein purpurnes Stoffstück, das eine Dritte abgewandten Gesichts einem Nackten überwarf. An drei >guten Werken« war die Sonne schon vorbeigezogen, und Irene Hieber rührte sich noch immer nicht vom Fleck. Kniete neben mir und hielt den Kopf in beide Hände gestützt. Sie war vor mir im Beichtstuhl gewesen, mußte also längst fertig sein mit ihrer Buße. Ich hatte ein Vater unser< und zehn >Gegrüßet seist du, Maria< bekommen wie üblich. Irene Hieber kniete nun schon das Vier- und Fünffache ab. Sie wollte mich besiegen. Auf dem Weg über Heiligenbildchen konnte ihr dies nicht gelingen. Dazu lernte sie zu schlecht auswendig. Aber knien, das mußte ich ihr lassen, knien konnte sie. Ich auch. Bis ich die Kniescheiben nicht mehr spürte auf dem blanken Holz.
Die Sonne war hinter dem Sarg des letzten guten Werkes verschwunden, >die Toten begraben«, Fräulein Kaasen an ihrem Stock mit dem porzellanenen Entenkopf hinausgehumpelt, das dumpfe Geräusch des Gummipfropfens, das den Stock rutschfest machte, war verhallt, die Kirchentür ins Schloß gekracht. Wirknieten. Fräulein Kaasen, eine der Putzstellen der Mutter, würde meine Frömmigkeit zu rühmen wissen. Manchmal holte ich die Mutter bei ihr ab.
Nie traf ich das Fräulein ohne ein Stück Seide für ein Meßgewand, das sie mit schimmernden Fäden bestickte. Garndocken in allen Farben staken in einem Bastkörbchen wie Gold und Edelstein. Jeder Stich, o Herr, für dich<, pflegte sie mit gespitzten, altersdünnen Lippen zu sagen, wenn sie die Nadel in den Stoff bohrte. Warum denn der Pastor sich so schmücken würde, hatte ich sie einmal gefragt, wo doch Jesus so bescheiden, ja ärmlich gelebt hatte.
Von Fräulein Kaasens langer Erklärung hatte ich nichts begriffen und das Stück Schokolade auch gleich wieder ausgespuckt. Das ist Ingwer, mein Kind, hatte sie gelächelt. Das Bittere unter dem Süßen. Wie im Leben.
Was mich immer wieder in dieses Zimmer lockte, war ein Jesus, der über dem Nähtischchen seine Arme ausstreckte, größer als der aus der Turnhalle. Er war aus Stoff und glich einer nackten Puppe, die man zerbrochen und notdürftig wieder geflickt hat. Die Haare des Gekreuzigten waren echt, die Dornen, die sie krönten, auch und so lang, daß sie das gestickte Gesicht fast verbargen. Der Kopf hing schwer und tief auf die Brust wie der Kopf des alten Fräuleins, und manchmal glaubte ich, ihn auch genauso zittern zu sehen.
Fräulein Kaasen, sonst immer die letzte, war fort. Wir knieten. Knieten, als sich die Tür des Beichtstuhls öffnete und der Geistliche heraustrat. Ein Fremder. Er vertrat den Kaplan, der zu seiner sterbenskranken Mutter
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