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Das verborgene Wort

Das verborgene Wort

Titel: Das verborgene Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulla Hahn
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das alles nichts an. Der Vater zog das Portemonnaie noch einmal. Seit diesem Tag war ich nie wieder fünf.
    Für Kinder ab sechs kosteten zwei Teilstrecken einen Gro-
    * auskundschaften
    sehen. Zwanzig kupferrote runde Plättchen hatte mir die Mutter aus der Sammeltasse in die Hand gezählt. Mit zwanzig roten Pfennigen in der Jackentasche zu klappern war doch etwas ganz anderes als zwei lumpige Groschen zu befummeln. Der Schaffner warf sie in eine lederne Umhängetasche, deren Metallverschluß vor jedem Fahrgast auf- und zuschnappte. Mit der Kurbel eines trommelförmigen Geräts, die ihm, wie seine Geldtasche, an gekreuzten Riemen vor dem Bauch hing, drehte er den Fahrschein heraus: Aha, in die Siedlung willst du. Alle Köpfe wandten sich mir zu. Ich duckte mich unter den Blicken. Vor mir saß Frau Trapmann, die im grobmaschigen Netz ein Fleißiges Lieschen transportierte. Aus winzigen Ablegern zog sie die prächtigsten Pflanzen, besonders Fleißige Lieschen, und versorgte damit Freunde und Bekannte, weit über Dondorf hinaus. Ausgerechnet sie wußte nun, daß ich zu den Müppen fuhr.
    Die Fahrt ging durch Getreide- und Kartoffelfelder. Gemüse wuchs besser am Rhein, wo es feuchter war. Am Horizont verschwamm das Möhnebüschelsche, ein verwildertes Gehölz. Die Haltestelle rückte näher.
    Siedlung, schrie der Schaffner, das i in die Länge ziehend, bis er mit letztem Atem das >ung< gerade noch hervorbrachte. Er riß die Tür auf, wandte sich in den Wagen: Frau Trapmann, wollt Ihr nit auch hier raus? Ihr habt doch nit bis Pleen bezahlt. Geniert raffte die Frau ihren Glockenrock zusammen und warf mir von der Seite einen schnellen Blick zu. Da hatte ich zu Hause etwas zu erzählen.
    Irene holte mich ab. Es wäre schwer gewesen, sie zu finden. Die Häuser sahen alle gleich aus. Sie waren aus großen, grauen Steinen gemauert. Galoppsteine nannte Onkel Schäng, der auf dem Bau arbeitete, diesen zusammengebackenen Puffreis.
    Die unverputzten Häuser kamen mir roh und abstoßend vor. Keine Zäune, keine Hecken trennten die Gärten, auf denen kaum zwei Bettücher hätten nebeneinanderliegen können. Dafür stand hinter jedem Haus eine Teppichstange, was dem Ganzen einen zackig-sportlichen Anstrich verlieh. Wilder Wermut und wilde Möhre, Schafgarbe und Kamille, Disteln, ganz so, wie an den Bahngleisen auf dem Weg zur Schule. Schmächtige Eichen, von Stricken gehalten, von Holzpfählen gestützt, mühten sich, Fuß zu fassen. Kein Baum, der schon hätte Schattenspenden können. Hier und da noch ein Sand- oder Kieshaufen, ein paar Planken, Schotter, gesprungene Ziegel, eine Schubkarre. Nicht ein Fetzen Papier, nicht eine zerbrochene Flasche, nicht die Spur von Unrat oder Müll. Erst in den nächsten Tagen, erklärte Irene, würden richtige Straßenschilder aufgestellt werden. Noch behalf man sich mit Pappen. Die Straßen hießen Breslauer und Posener, Kreisauer und Annaberger. Irene wohnte in der Königsberger Straße. Da sitzen jetzt die Russen, sagte sie. Königsberg. Ich wußte, daß es Königswinter gab, wo die großen, weißen Rheindampfer anlegten, die von Düsseldorf den Rhein hinauffuhren. Schiffe mit Blaskapellen und schunkelnden Menschen, deren Lieder im Vorbeifahren bis in die Dondorfer Rheinwiesen schallten. Königsberg kannte ich nur als Klopse, Hackbällchen in weißer Soße mit Kapern, zu Kartoffeln und Rote Bete. Ein Sonntagsessen.
    Wie ein Zeltlager sah die Siedlung aus, provisorisch, jederzeit wieder einzureißen. Aber die Fenster leuchteten heiter und hatten Gardinen, einfach straff zwischen zwei Stangen gespannt oder Volants aus Tüll oder Spitzen. Auf den Fensterbänken wurzelten Kalla und Asparagus, buntes Blatt und Gummibaum, Geranien in allen Größen und Farben, und irgendwo siedelte sich nun auch das Fleißige Lieschen von Frau Trapmann an. Würde um die Wette gedeihen mit den Ablegern im Dorfe, würde selbst Sprößlinge abgeben für die Siedlung, fürs Dorf. Ein Netz aus Ablegern würde die Frauen aus dem Dorf mit denen in der Siedlung verknüpfen, und das unsichtbare Netz darunter würde wachsen wie die Fleißigen Lieschen.
    Irenes Mutter war schlank und größer als die meisten Frauen im Dorf. In den Spitzen ihrer Lockenkringel flimmerte die Sonne. Sie trug an einem ganz gewöhnlichen Werktag weder Schürze noch Kittel, sondern ein Kleid und begrüßte mich so freundlich, als gäbe es bei mir etwas zu holen. Bes fröndlich, do jüt et jet ze holle, hieß es zu Hause, wenn man zu Leuten ging, die

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