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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manu Joseph
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Rock und ein T-Shirt, wie immer, wenn sie zu Hause ist. In der Öffentlichkeit zeigt sie sich nie in solcher Kleidung. Sie ist ein anständiges Mädchen, und Thoma mag anständige Mädchen, auch wenn er nicht weiß, warum. Sie hat ein Haarband zwischen den Lippen und fasst ihr dichtes, schwarzes Haar über dem Kopf zusammen, als wollte sie sich daran nach oben ziehen. Weil er gekommen ist, bindet sie sich einen Pferdeschwanz – als Reaktion auf Thoma unternimmt Mythili allerlei. Einen Augenblick lang empfindet Thoma in der Schläfengegend eine unbändige Freude.
    Sie sitzt mit nackten Beinen im Schneidersitz auf dem Bett und möchte sein Mathebuch sehen. «Setz dich dort hin, Thoma», sagt sie und deutet auf den Stuhl, der vor ihr steht. Er spürt Zuneigung in ihrem Ton. Sie hat «Thoma» gesagt, auch wenn sie seinen Namen gar nicht hätte nennen müssen.
    Es ist drei Jahre her, seit Thoma in ihrem Zimmer war – am Tag bevor Unni starb. Das Zimmer sieht noch genauso aus wie damals. Vor den Fenstern hängen rosafarbene Blümchenvorhänge, an die er sich nicht erinnern kann, doch ihr Godrej-Stahlschrank mit dem Spiegel, ihr winziger Schreibtisch aus Holz und ihr Bett stehen noch am selben Platz. Sie hat immer noch dasselbe Bett, eine sehr schmale Liege, so, als sollte verhindert werden, dass sie sie mit ihrem eigenen Schatten teilt.
    Sie sieht sich das Lehrbuch Seite für Seite an und lächelt dabei, als betrachte sie ein Familienfotoalbum. Er hat noch nie jemanden gesehen, der über Mathebücher lächelt.
    «Mythili», sagt er.
    «Ja.»
    Er weiß nicht, warum er den Mund aufgemacht hat. Er wollteihren Namen nur in Gedanken aussprechen und war nicht darauf vorbereitet, dass Laute aus seinem dummen Mund dringen würden. Eigentlich hat er nichts zu sagen. Sie sieht in jetzt an.
    «Was ist?», fragt sie.
    «Mythili, stimmt es, dass der Innenminister vorhat, die Zahl Pi von 3,14.159 auf eine simple 3 abzurunden?»
    «Wer hat dir das denn erzählt?»
    «Unni.»
    Sie hält die Hand vor den Mund und lacht. Sie hat saubere, schlanke Finger, und ihre Nägel sind in einer mädchenhaften Farbe lackiert, deren Namen er nicht kennt. «Unni», sagt sie und wendet sich wieder dem Mathebuch zu, doch er kann sehen, dass sie abgelenkt ist. Sie lächelt gespenstisch und lacht wieder los. «Unni war wirklich ein Idiot», sagt sie. Sie blättert ein paar Seiten um, und ihr Lächeln verschwindet allmählich. «Du hast sein Hemd an», sagt sie, ohne aufzublicken. «Ich kann mich an dieses Hemd erinnern.»
    Thoma schämt sich, er hat das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen, und sagt: «Meine Mutter hat mir viele Hemden gekauft, aber ich trage lieber Unnis alte Hemden. Weißt du, ein altes Hemd fühlt sich weicher an als ein neues. Das hier ist nicht umgeändert worden. Er hat es getragen, als er so alt war wie ich.»
    «Ich weiß, ich kenne das Hemd. Du siehst darin aus wie er», sagt sie. Ihre großen, ernsten Augen sehen ihn forschend an, und er hofft, dass sie ihr Urteil nicht anzweifelt. Unni sah eindeutig gut aus, und dass Mythili seinen Bruder in ihm sieht, ist ein gutes Zeichen.
    «Seh ich genau wie er aus? Oder zu fünfzig Prozent wie er? Oder nur zu zehn Prozent?»
    «Wir sind in Mathematikstimmung, stimmt’s?»
    «Ich bin eigentlich sehr mathematisch. Wenn ich ganz tief nachdenke, bin ich Mathematiker.»
    «Als Unni so alt war wie du, sah er dir sehr ähnlich. Jetzt, da du sein Hemd anhast, habe ich das Gefühl, ich rede mit ihm. Es ist ein seltsames Gefühl. Aber seine Stirn war breiter, und seine Augen waren schmaler und nicht so unschuldig wie deine. Selbst als kleiner Junge hatte er die Augen eines alten Mannes, der alles gesehen hat.»
    «An all das erinnerst du dich noch, Mythili?», sagt er und zählt schnell etwas an den Fingern ab. «Als Unni zwölf war, warst du erst acht.»
    «Mädchen haben ein gutes Gedächtnis», sagt sie.
    «Das hat Unni auch immer gesagt. Mädchen erinnern sich an alles. Allmählich vergesse ich sein Gesicht, kannst du dir das vorstellen? Wenn ich versuche, ihn mir vorzustellen, kann ich mich manchmal nicht mehr an sein Gesicht erinnern. Ich muss nach Hause gehen und mir sein Foto ansehen. Weißt du, da, wo früher der gerahmte Jesus Christus hing, da hängt jetzt ein großes Bild von Unni.»
    «Ich kann mich sehr gut an sein Gesicht erinnern», sagt sie.
    «Aber als er starb, warst du nicht älter, als ich jetzt bin.»
    «Ich war dreizehn, und du bist zwölf. Das ist ein

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