Das verbotene Glück der anderen
irgendeinem Grund ab. Wie ein kleiner Soldat tritt Miss Matilda einen Schritt vor und verpasst ihm eine schallende Ohrfeige. Was muss Thoma Chacko tun, was muss ein Junge tun, um glücklich zu sein? Wird Thoma Chacko es je schaffen?
Als Unni so alt war wie er, bekam er die Nehru-Rolle im Schultheaterstück, das am Unabhängigkeitstag aufgeführt wurde. Doch Thoma probt jetzt schon wieder als namenloser Statist, als einer von vielen Idioten, die sich mit der Nationalflagge am Boden wälzen und von britischen Soldaten verprügelt werden, die «verdammte Inder» zu ihnen sagen.
Selbst ein Haarschnitt ist eine Art von Erniedrigung. Der St.-Anthony’s-Frisiersalon, auf dessen Schild ein Bild vom bis auf einen Haarkranz kahlen Heiligen Antonius prangt, hat vom Gemeindepfarrer Anweisung, Thoma kostenlos die Haare zu schneiden. Daher lässt der Mann Thoma immer über eine Stunde warten und schneidet Leuten, die nach ihm gekommen sind, die Haare zuerst. Erst wenn kein zahlender Kunde mehr in Sicht ist, lässt er Thoma im Drehstuhl Platz nehmen. Er hängt Thoma nie einen weißen Schurz um und gibt ihm nie eine Kopfmassage wie allen anderen, und er hält nie einen Spiegel hinter ihn, um ihm seinen neuen Haarschnitt von allen Seiten zu zeigen. Wenn er fertig ist, muss sich Thoma vielmehr vor ihn hinstellen, und dann peitscht ihn der Friseur ein paarmal mit einem kleinen Handtuch und tut so, als würde er nur die Härchen entfernen.
Eine Stunde bevor Unni starb, hatte er sich hier die Haare schneiden lassen. Ousep hat den Friseur mehrmals befragt. «Wonach sucht dein Vater denn?», fragt der Mann. «Er kommt dauernd zu mir und fragt mich, ob Unni an dem Tag irgendwie merkwürdig gewesen ist. Ich erkläre ihm jedes Mal, dass Unni kein Wort gesagt hat, aber dein Vater schaut immer wieder vorbei und stellt mir jedes Mal dieselbe Frage.»
«War Unni an dem Tag irgendwie anders als sonst?», fragt Thoma. Diesmal schlägt ihn der Friseur noch fester mit dem kleinen Handtuch als normalerweise.
Thoma möchte Nachforschungen anstellen. Er will Fragen stellen, gute Fragen, Fangfragen, er will alles gründlich untersuchen, dem Gedächtnis der Leute Hinweise entlocken und herausfinden, warum Unni es getan hat. Doch wenn er darüber nachdenkt, weiß er nicht, wo er anfangen soll. Rätsel aufzuklären, ist sehr schwierig. Ob Thoma jemals in seinem Leben ein Rätsel aufklärt?
~
Im Traum, den Thoma als morgendlichen Traum erkennt, ist er ein großer, kluger, grausamer Leibwächter, der mit dem Ministerpräsidenten einen endlosen Korridor entlanggeht. Terroristen mit Maschinengewehren tauchen aus dem Nichts auf und zielen auf die beiden. Thoma zieht den Ministerpräsidenten in Zeitlupe zu sich und benutzt ihn als lebendes Schutzschild. Kurze Zeit später ist der Ministerpräsident von Kugeln durchlöchert, doch Thoma ist unversehrt. Er wacht auf und hat Mitleid mit dem alten Mann.
Aufgeregt wäscht er sich ausgiebig, shampooniert sich die Haare und zieht sein bestes Hemd an, das einmal Unni gehört hat. Thoma besitzt keine langen Hosen. Shorts tun es auch, er hat nichts gegen Shorts, nur muss er dann sehr darauf achten, wie er dasitzt, wenn er bei Mythili ist. Wenn sie durch die Beinöffnungen den alten karierten Vorhang der Chackos sieht, der jetzt als Unterhose wiedergeboren wurde, kann er sich nur noch mit einem Kopfsprung von der Dachterrasse stürzen.
Der Gedanke führt ihn zu der Frage, ob Unni sich eigentlich aus Scham umgebracht hat. Aus Scham zu sterben, ist immer noch der beste Grund. Doch man kann sich schwer vorstellen, dass Unni sich je geschämt hat. Er war so stark und allem ringsum so überlegen, auch wenn er genauso arm war wie Thoma.
Um zehn Uhr klingelt er, das verhängnisvolle Mathematikbuch in der Hand, bei Mythili. Seine Mutter sieht ihm von ihrer Wohnungstür aus zu. Er flüstert ihr zu: «Geh wieder rein.» Aber sie steht dort, weil sie neugierig ist. Als Mrs Balasubramanium die Tür endlich aufmacht, blicken sich die beiden Frauen über den kurzen Flur an und bilden sich ein, einander angelächelt zu haben.
Mythilis Mutter bringt ihn zum Zimmer ihrer Tochter, die bereits an der Tür steht und wartet. «Eine sehr schlechte Idee ist das, Mythili», sagt sie zu ihr. «Du hast so viel zu tun. Warum lädstdu dir diese Last auf?» Mythili blickt ihre Mutter wütend an, zieht Thoma am Handgelenk in ihr Zimmer und knallt die Tür zu. Mythilis Hand, das wird er nie vergessen, ist eiskalt.
Sie trägt einen knielangen
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