Das verbotene Glück der anderen
weil ich früher dachte, Unni sei einer von diesen übernatürlichen Menschen.»
«Ich glaube, Unni beherrschte ein paar Tricks. Er hatte keine übernatürlichen Kräfte, da bin ich mir ganz sicher, Mythili. Meiner Meinung nach hat nur Pelé übernatürliche Fähigkeiten.»
«Pelé?», stieß sie hervor, «wie kommst du denn jetzt auf den?»
«Pelé ist ein berühmter Mann», sagt er. «Weißt du, wer das ist?»
«Ja, Thoma, ich weiß, wer Pelé ist. Jeder weiß das.»
«Er ist ein Genie.»
«Ja, ein Genie.»
Thoma findet es tröstlich, dass er einen vernünftigen Konkurrenten für Unni kreiert hat.
«Pelé ist irre», sagt er. «Nur Pelé hat übernatürliche Fähigkeiten.»
«Trotzdem hat er einen blöden Namen», sagt sie. «Pelé. Wie komisch.»
Thoma traut seinen Ohren nicht. Der Augenblick, auf den er schon immer gewartet hat, ist gekommen, doch jetzt hat er das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen. Es ist ein Wunder. Das erste Wunder seines Lebens.
«Es ist nicht sein richtiger Name», sagt er leise.
«Er heißt gar nicht Pelé?»
«Mit richtigem Namen heißt er Edson Arantes do Nascimento.»
«Woher weißt du so was, Thoma? Nicht schlecht.»
«Er war ein russischer Spion», sagt er.
«So ein Quatsch.»
«Er hat für den KGB gearbeitet. Der KGB ist der russische Geheimdienst.»
«Das weiß ich», sagt sie.
«Mädchen wissen normalerweise nicht, was der KGB ist», sagt er. «Und nur ganz wenige auf der Welt wissen, wofür KGB steht.»
«Wofür steht KGB?»
«Für Komitet Gossudarstwennoi Besopasnosti.»
Sie streicht ihm liebevoll über den Kopf. «Du hast ganz schön viel gelesen, Thoma.»
«Von wegen ganz schön viel. Ich lese dauernd.»
Den ganzen Tag schlendert Thoma mit einem «Wohlgefühl» durch die Gassen von Kodambakkam, und er hat Mitleid mit allen, die er auf der Straße sieht, weil Mythili sie nicht kennt. Er sucht sich nur kurze Gassen aus, weil er meint, dass bei einer langen Straße die Gefahr besteht, dass Mythili am anderen Ende auftaucht und er dann wieder vergisst, wie Laufen geht, und sie dann weiß, dass er ein Esel ist. An den folgenden Tagen tigert er in der Wohnung auf und ab, vom vorderen zum hinteren Balkon, um Mythili kurz zu sehen. Manchmal begegnet er dabei seiner Mutter, die ebenfalls auf und ab läuft, und dann lächeln sie sich höflich an, als seien sie Passanten, die einander grüßen. Er fängt an, Mythilis Schuluniform nervös zu verehren, die sie jeden Abend zum Trocknen auf den Balkon hängt. Er betrachtet sie sehr diskret. Das Beste an seinem Tag ist die Zeit vor dem Einschlafen, wenn er sich vorstellt, er würde sterben und Mythili würde sich in ihrer Schuluniform im Bad verstecken und leise um ihn weinen. Und wenn er bei ihr ist, um Mathe zu lernen, versucht er, sie abzulenken, indem er von Unni spricht. Wenn sie ihn nicht ansieht, betrachtet er sie sorgfältig, so, wie er einst Unnianstarrte, wenn Unni ihn nicht ansah – mit ausdrucksloser, ernster Miene.
~
Es ist nicht so, dass Ousep Chacko seine Nachforschungen wieder aufgegeben hätte, nur weiß er nicht, wie er weiter verfahren soll. Als er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, forschte er weiter, obwohl er nicht wusste, wonach er eigentlich noch suchte. Er hat alle getroffen, auf die es ankommt, bis auf Somen Pillai. Es gibt niemanden mehr, den er treffen oder dem er entgegentreten konnte. Auch Simion Clark hat er getroffen, und zwar vor einer Woche.
Simion Clark entpuppte sich als großer, kerngesunder Mann in den Vierzigern, der gleichzeitig Weißer und Inder war. Der Blick seiner Augen hinter eckigen Brillengläsern war verhalten, er hatte einen dünnen, strengen Mund, schlammfarbenes Haar und einen ausgeprägten Hintern. Er stand unnatürlich aufrecht in der Tür und starrte ihn leicht feindselig an. Weil Simion darauf bestand, dass er Albert Fernandes sei, war die Begegnung zuerst etwas unangenehm. Doch weil er wusste, dass er aufgeflogen war und die Verteidigung seiner Position daher albern gewesen wäre, gab er klein bei. Außerdem war er neugierig.
Seine Wohnung war klein, und die drei einander gegenüberstehenden, wuchtigen Ledersofas machten sie noch kleiner. Simion tat, als sei er entspannt. Männer mit langen Beinen können diesen Eindruck leichter erwecken.
«Wie haben Sie mich gefunden?», fragte er.
«Sie haben gar keine Narbe, Simion, das wundert mich.»
«Ich habe Sie gefragt: ‹Wie haben Sie mich gefunden?›»
«Männer wie Sie haben in Madras normalerweise
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