Das verbotene Glück der anderen
Wissen Sie, was ein Sexologe ist?»
«Ja.»
«Gut. Ich weiß es nämlich nicht. Er trifft jede Woche haufenweise Journalisten. Ältere Journalisten wie Sie, elegante Männer, kluge Männer, doch vor allem Männer, die nicht mehr jung sind. Sie kommen in seine Sprechstunde, ohne Anmeldung, so wie Sie heute. Sie sagen zu ihm, sie wollen etwas über die sexuellen Probleme der Männer und Frauen in Madras erfahren. Über ihre sexuelle Verfassung. Sie sagen, sie würden an einem Artikel schreiben. Das sagen sie ihm. Aber er weiß, was sie wollen. Sie wollen ihre Penisse hochkriegen und brauchen kostenlose, diskrete Beratung.»
«Ich bin wegen des Artikels hier.»
«Das bestreite ich gar nicht. Ich erzähle Ihnen nur, was ich über Journalismus weiß. Haben Sie ein psychisches Leiden?»
«Nein.»
«Haben Sie den Verdacht, dass jemand aus Ihrer Familie ein psychisches Leiden hat?»
«Ich bin nicht hier, um mich kostenlos behandeln zu lassen.»
«Sie sind hier, um für einen Artikel zu recherchieren.»
«Ja.»
«Und Sie haben sich keinen Termin geben lassen, weil ich ein alter Mann bin, unwichtig und zu nichts nütze.»
«Das stimmt in gar keiner Weise.»
«Bevor Sie zu mir kamen, haben Sie sicher zuerst alle intelligenten jungen Neurologen in Madras interviewt.»
«Das stimmt nicht. Sie sind der Erste, den ich für den Artikel interviewe. Das können Sie nachprüfen. Sie gehören zu einer kleinen Gruppe eng verbundener Kollegen. Sie können ein paar davon anrufen und es sich bestätigen lassen.»
«Warum bin ich der Erste, den sie treffen wollten?»
«Ich wollte erst den Patriarchen treffen und mich dann nach unten hangeln.»
«Sie wollten erst den Patriarchen treffen und sich dann nach unten hangeln. Gut, Ousep, wenn das Ihr Wunsch ist.»
«Bevor wir anfangen, Doktor, habe ich eine neugierige Frage», sagt Ousep und holt einen Notizblock und einen Stift aus der Hosentasche. «Warum haben Sie acht Füller in Ihrer Brusttasche?»
«Weil sie mir gehören.»
«Und die Medaillen, die an Ihrem Hemd stecken – gibt es für die einen besonderen Grund?»
«Das sind Ehrenmedaillen, Ousep. Die eine ist von der American Neurological Association, die zweite von der American Academyof Neurology und die dritte von der Indian International Neuropsychiatry Association. Ich trage sie gerne. Ich weiß, wie das aussieht. Ich weiß auch, was Sie denken. Sie denken, ein Patient sitzt auf dem Arztstuhl. Meinen Patienten gefallen sie, ihnen gefällt, dass ich nicht normal aussehe, dass ich nicht aussehe wie diejenigen, die auf der anderen Seite stehen. Sie glauben, ich sei auf ihrer Seite.»
«Ich habe gesehen, dass Sie die Gita lesen.»
«Ja, Sie sehen eine ganze Menge, scheint mir. Als Inder, als echter Inder, Ousep, fangen Sie nie an, die Gita zu lesen. Sie lesen sie immer nochmals. Zu bestimmten Zeitpunkten Ihres Lebens lesen Sie die Gita immer wieder und sehen dann Dinge, die Sie vorher nicht gesehen haben. Es ist die großartigste Nebenhandlung, die je geschrieben wurde. Sie zu lesen, macht mich ruhig und verschafft mir ein gutes Gefühl. In letzter Zeit komme ich mir etwas verloren vor, Ousep. Deshalb lese ich wieder die Gita.»
«Warum kommen Sie sich verloren vor?»
«Meine Frau ist vor drei Monaten gestorben. Kennen Sie den Witz, Ousep? ‹Mein Liebes, ohne dich fühle ich mich schrecklich. Es ist genauso, wie bei dir zu sein.›»
Ousep gibt ein gutmütiges Mann-zu-Mann-Kichern von sich.
«Finden Sie das witzig?», fragt der alte Mann.
«Ja.»
«Humor ist eine Art von Wahrheit, nicht wahr? Deshalb funktioniert er. Wissen Sie, warum wir lachen?»
«Warum?»
«Unser Lachen entwickelte sich aus einer wilden Fratze, die der Urmensch zu schneiden pflegte. Wenn er nicht genau wusste, ob die Gefahr vorüber war, schnitt er diese Grimasse. Aus ihr wurde mit der Zeit das menschliche Lachen. Wir lachen, weil der Humor uns mit einem Stück Wahrheit überfällt und wir Gefahrspüren. Deshalb lachen viele im Flugzeug – wenn es zu Turbulenzen kommt und die Leute Angst haben, lachen sie, stimmt’s? Haben Sie je in einem Flugzeug gesessen?»
«Ja, ein paarmal.»
«Dann müssen Sie ein bedeutender Journalist sein. Meine Frau kam nie in den Genuss. Ist das nicht traurig? Dass jemand stirbt und nie geflogen ist.»
«Ja, das ist traurig.»
«Kennen Sie jemanden, der gestorben ist, ohne je geflogen zu sein?»
«Seltsame Frage, Doktor.»
«Kennen Sie jemanden, der gestorben ist, ohne je geflogen zu sein?»
«Sehr
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