Das verbotene Glück der anderen
Stimme Ihrer Mutter gehört, und diese Stimme hätte Ihnen beiden Anweisung gegeben, nichts mehr zu essen. Das erzählen Sie ihr dauernd, tagelang. Wird die jüngere Schwester anfangen, die Stimmen zu hören?»
«Ich weiß es nicht.»
«Was meinen Sie – was sagt Ihnen Ihr Instinkt?»
«Wenn sie anfängt, Stimmen zu hören, nur weil ich zu ihr sage, dass ich Stimmen höre, würde mich das sehr überraschen.»
«Ich habe darüber geforscht, Ousep. Ich habe das Phänomen hier in diesem Gebäude erforscht. Selbst, wenn Sie der beste Schauspieler der Welt sind, ist die Chance, dass die jüngere Schwester anfängt, Stimmen zu hören, nur weil Sie sagen, da seien Stimmen, verschwindend gering. Sie sind genauso beharrlich wie die ältere Schwester, sagen, was sie gesagt hätte, tun, was sie getan hätte, und doch können Sie die jüngere Schwester nicht dazu bringen, Stimmen zu hören, wenn Sie ihr diese Stimmen nur vorlügen.»
«Und warum?»
«Weil man, wenn man jemanden täuschen will, anscheinend zuerst sich selbst täuschen muss. Das ist die Quintessenz menschlicherEinflussnahme. Deshalb kann die ältere Schwester die jüngere dazu bringen, Stimmen zu hören, und Sie können es nicht. Ein Wahn ist um ein Vielfaches mächtiger als eine Lüge. Der Unterschied zwischen Wahn und Lüge ist das unterscheidende Merkmal zwischen einem erfolgreichen Heiligen und einem Schwindler. Warum gelingt es dem einen, das halbe Land davon zu überzeugen, dass er Gott ist, während andere drittrangige Zauberer scheitern oder sogar verhaftet oder verprügelt werden? Warum sind manche Erweckungsprediger erfolgreicher als andere Erweckungsprediger? Die Rationalisten denken, alle Gottmenschen seien Schwindler, und das ist problematisch. Die Rationalisten sind nicht rational genug. Die Menschen lassen sich nicht so leicht von Schwindlern reinlegen. Berühmte Gottmenschen sind berühmt, weil sie wirklich glauben, sie seien heilig. Und unsere ganzen Götter, Ousep, sind keine Lügen. Sie haben existiert. Alle unsere Götter waren ursprünglich Menschen mit psychischen Störungen. Ihre Wahnvorstellungen waren so stark, dass sie sie weitergaben. Gott und der Gottesgläubige waren damals im ‹Zweierwahn› eingesperrt – und sind es heute noch. Der Gott in dieser Gleichung konnte manchmal ein Staatstheoretiker sein, der von einer mächtigen Idee beherrscht wurde, oder ein Wirtschaftswissenschaftler, ein Diktator, sogar ein Teilchenphysiker. Nicht weil sie recht haben oder Schwindler sind, können sie die Menschen beeinflussen, sondern weil sie sich dauernd selbst etwas vormachen. Der menschliche Wahn hat die außergewöhnliche Eigenschaft, sich zu übertragen. Der Wahn bewegt sich von einem Nervensystem zum nächsten, er breitet sich aus, besonders, wenn er nicht gegen einen bereits existierenden, mächtigen Mythos ankämpfen muss.»
Im Nachhinein fügt er der Liste derer, die sich etwas vormachen, noch die Sozialarbeiter hinzu. «Manche von diesen lebenden Heiligen merken nicht, dass sie in Wirklichkeit Sadistensind, denen es Spaß macht, menschliches Elend aus der Nähe zu betrachten.»
Die Augen werden ihm langsam schwer, und er lächelt, als durchlebe er gerade eine schöne Erinnerung. «Ein Junge hat einmal etwas zu mir gesagt, in diesem Zimmer hier. Er saß da, wo Sie jetzt sitzen, und sagte zu mir, jede Wahnvorstellung habe das Ziel, sich auszubreiten, andere Nervensysteme zu kolonisieren. Das sei ihr Sinn und Zweck. Es gibt dafür keinen Beweis, aber manchmal kommt es mir so vor, als hätte der Junge recht gehabt.»
«Wer war der Junge?»
Iyengar winkt geringschätzig ab. Ousep beschließt, ihn nicht zu drängen, und sagt: «Nach dem, was Sie gesagt haben, Doktor, kann jemand seinen Wahn offenbar auf mehr als eine Person übertragen. Es ist also nicht nur ein ‹Zweierwahn›. Ist das richtig?»
Iyengar will gerade etwas sagen, hält dann aber inne. Ousep weiß, dass er sich mit seinen Fragen eine Blöße gibt, versteht jedoch nicht, woher das kommt. Oder ist Iyengar einfach ein theatralischer Mann, ein Kinomensch, der gelernt hat, die Leute mit Kinomomenten zu verblüffen? Ousep würde die Macht des Tamilkinos nie unterschätzen. Madras ist voller Schauspielerklone, voller Taten und Augenblicke, die die Leute von Filmen kopiert haben.
«Ousep, wie sind Sie hierhergekommen?»
«Ich verstehe die Frage nicht.»
«Ich will versuchen, mir die Ereignisse der Reihe nach vor Augen zu führen. Sie beschließen, einen Artikel über
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