Das verbotene Glück der anderen
jüngere war normal, völlig normal. Die ältere hat eine Vorgeschichte. Seit ihrer Kindheit hatte sie Visionen und hörte Stimmen. Sie hatte eine besondere Bindung zu Lord Krishna, der jede Nacht auf ihrem Bett saß und sie vor Indra beschützte, der versuchte, sie zu vergewaltigen. Doch sie ging zur Arbeit wie alle anderen. Sie arbeitete in einer kleinen Bibliothek. Weil sie einen leichten Stich hatte, war es schwierig für ihre Mutter, einen Mann für sie zu finden. Die jüngere konnte erst heiraten, wenn die ältere verheiratet war. Die Mutter hatte also eines Tages genug von dieser Welt und nahm sich das Leben. Sie schluckte eine Menge Rattengift und trank sicherheitshalber noch eine halbe Flasche Phenyl hinterher.
Die Mädchen saßen zu Hause und trauerten um ihre Mutter. Es ist durchaus normal, dass zwei Frauen sich unter diesen Umständen für ein paar Tage völlig von der Außenwelt abkapseln.
Natürlich waren sie deprimiert. Außerdem waren die Gesellschaft, die Leute, für den Tod ihrer Mutter verantwortlich. In ihren Augen. Deshalb interessierten sie sich nicht mehr dafür, aus dem Haus zu gehen. Sie saßen zu Hause und taten nichts. Nach einer Weile fing die ältere Schwester an, Stimmen zu hören. Sie erzählte ihrer Schwester, ihre Mutter sage, sie hätte sich nicht umgebracht, jemand habe sie vergiftet, und die Mädchen sollten nichts mehr essen, bis die Gefahr vorüber sei. Die ältere Schwester aß nichts mehr und erzählte dem jüngeren Mädchen dauernd von den Stimmen. Eines Tages begann auch die jüngere Schwester, Stimmen zu hören. Die ältere Schwester hatte ihren Wahn auf die jüngere Schwester übertragen, und beide fanden ihren Wahn ineinander bestätigt. Es handelt sich um einen klassischen Fall von geteiltem Wahn.
Folie-à-deux
. Zweierwahn.»
«Die ältere Schwester hat schon früher Stimmen gehört und Visionen gehabt?», fragt Ousep.
«Ja. Sie ist schizophren und bei uns in Behandlung.»
«Und die jüngere ist normal, hat aber angefangen, die Stimmen zu hören.»
«Meines Wissens ist sie völlig normal.»
«Das ist seltsam. Kann jemand, der schizophren ist, seinen Wahn auf einen normalen Menschen übertragen?»
Iyengar sieht Ousep bedeutungsvoll an. Ousep hat den Eindruck, sich verplappert zu haben, ist sich aber nicht ganz sicher.
«Das kommt dauernd vor, Ousep», sagt Iyengar. Er dreht sich mit dem Drehstuhl zur Wand und lehnt sich bequem zurück. «Sie haben das sicher schon selbst erlebt, es aber nicht als ‹Zweierwahn› erkannt. Weniger dramatische Fälle als der der zwei Schwestern, aber trotzdem Fälle von geteiltem Wahn. In Familien kommt so etwas oft vor, besonders bei Ehepaaren. Der Mann verliert dauernd seine Stelle, kann sich in keinem Büro länger als ein paar Monate behaupten. Er glaubt, die Welt sei gegen ihn und er sei zu gut für die Welt. Seine Frau fängt an, das ebenfalls zu glauben. Er hat seinen Wahn auf sie übertragen. Sie gehen in dem Glauben durchs Leben, die anderen wollten ihnen schaden, jemand habe sie verflucht, eine Kraft arbeite gegen sie. Doch in Wirklichkeit verliert der Typ seinen Job, weil er nicht gut genug ist.»
«Aber das kann normalen Ehepaaren auch passieren», sagt Ousep. «Ein Mann muss weder Wahnvorstellungen noch eine Neurose haben, um seine Frau zu täuschen. Vielleicht ist er einfach ein Idiot. Ein Idiot, der seine Arbeit alle paar Monate verliert, weil er inkompetent ist, und seine Frau dann anlügt und ihr nicht sagt, warum er seine Arbeit verliert.»
«Schon, aber würde sie ihm glauben?»
«Wie meinen Sie das, Doktor? Warum sollte sie ihm nicht glauben? Wenn er ein guter Lügner ist, dann glaubt sie ihm.»
«Können Sie Ihre Frau täuschen?»
«Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, Doktor. Ehemänner täuschen ihre Frauen dauernd. Wollen Sie das bestreiten?»
«Ousep, wir kommen jetzt zu einem faszinierenden Aspekt des Zweierwahns. Sie müssen mir genau zuhören. Denken Sie an die zwei Schwestern. Stellen Sie sich vor, Sie wären die ältere Schwester. Sie als Ousep Chacko, der nicht schizophren ist. Davon gehen wir aus, auch wenn ich Ihre Vorgeschichte nicht kenne. Sie nehmen also den Platz der schizophrenen älteren Schwester ein, die Stimmen hört. Sie hören keine Stimmen, weil Sie nicht verrückt sind. Stellen Sie sich jetzt vor, dass ich Sie bitte, die jüngere Schwester zu täuschen, dass ich Sie bitte, ihr etwas über die Stimmen vorzulügen. Sie lügen sie also an und erzählen ihr, Sie hätten die
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