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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manu Joseph
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undwischen sich die Tränen ab. «Schlaf jetzt», sagt sie. «Du musst morgen zur Schule. Ich versprech dir, dass er nicht in dein Zimmer kommt. Für heute Abend ist er erledigt.» Und dann macht sie die Tür zu.
    Im Schlafzimmer, aus dem sie schon vor Jahren ausgezogen ist, lehnt Mariamma am Bücherbord. Ousep steht immer noch auf dem Stuhl, den Hals in der Schlinge. Sie inspiziert den Stuhl. Er ist mit den Jahren wacklig geworden, doch, anders als ein Tisch, bricht ein Stuhl nie plötzlich zusammen. Kein guter Stuhl tut das. Er bekommt höchstens lahme Beine und kippt. Und das reicht nicht, um Ousep zu töten. Sie könnte ihm den Stuhl jetzt unter den Füßen wegreißen. Das wäre der perfekte Mord. Daran hat sie schon öfter gedacht, aber sie weiß nicht genau, ob die Schlinge das aushält, ganz zu schweigen vom Deckenventilator. Ousep ist schwerer, als er aussieht.
    «Ousep Chacko hinterlässt eine Frau, die eine Büffelfrau ist, sowie einen schwachsinnigen Sohn. Sein älterer Sohn Unni Chacko kam vor drei Jahren unter mysteriösen Umständen ums Leben.»
    «Komm runter», sagt sie, «und geh ins Bett.»
    Ousep nimmt den Kopf aus der Schlinge, er tut es glorreich, als sei es eine Blumenkette, die ihm seine Fans um den Hals gehängt haben, eine dieser Girlanden, die er in jungen Jahren bekam. Mariamma hilft ihm vom Stuhl. Er zieht den Stuhl zum Tisch zurück.
    «Warum siehst du so traurig aus, Mariammo», fragt er. «Mach nicht so ein trauriges Gesicht.»
    «Ich bin nicht traurig.»
    «Das Geheimnis des Glücks besteht darin, dass man nichts von anderen erwartet.»
    «Das ist mir bekannt.»
    «Vor allem nicht von denen, die einem sehr wichtig sind.»
    «Auch das weiß ich.»
    «Geh jetzt.»
    Sie verlässt leise das Zimmer. Er zieht sich aus, löscht das Licht, schlägt die Tür zu und legt sich schlafen.
    Mariamma steht in der Diele vor Unnis großem Porträt. Sie lässt die Hand darübergleiten, obwohl er ihr dann immer noch lebloser vorkommt. Vielsagend lächelnd mustert er seine Mutter. Er hat ihre schöne Nase geerbt, ihre Hautfarbe hoher Geburt. Von seinem Vater hat er die hohe Stirn. Manche meinen, Unni sei arrogant gewesen, was eigentlich nichts Schlimmes ist, jedenfalls nicht so schlimm, wie viele behaupten. Aber so denken sie nun mal und haben deshalb etwas leise Triumphierendes, wenn sie über Unnis Tod sprechen, über seinen Sturz in die Tiefe. Sterben ist anscheinend eine richtige Niederlage.
    Sein Tod ist für sie völlig unbegreiflich. Manche sagen, irgendetwas müsse in den zwanzig Minuten passiert sein, als er bei sich zu Hause oder im Treppenhaus war. Vielleicht hat ihn auch jemand angerufen. Vielleicht hat er etwas gesehen. Aber was konnte denn schon passiert sein? Es ergibt keinen Sinn. Manche sagen, Unni sei nicht normal gewesen, er sei in eine Welt finsterer Gedanken abgedriftet, er sei für sein Alter zu klug gewesen.
    In den Tagen nach Unnis Tod tat sein Vater sein Bestes, um herauszufinden, wie es dazu hatte kommen können. Er sprach mit beinah allen Klassenkameraden und Freunden von Unni, doch am Ende hatte keiner eine Erklärung dafür, und Ousep gab auf. «Manche Jungen schaffen es eben nicht, mehr ist dazu nicht zu sagen», sagte er, und damit war das Kapitel für ihn erledigt.
    Was war also geschehen? Was war in Ouseps Schoß gelandet? «Eine unerwartete Botschaft», erzählt er den Wänden, wenn er betrunken ist, «die der himmelschreienden Inkompetenz der Indischen Post zuzuschreiben ist.» Mehr ist aus ihm nicht herauszubekommen, Mariamma hat ihn mehrmals gefragt, sogar listigflüsternd, als er tief schlief, doch er sagt nicht, was er gefunden hat. Egal, was es sein mag, es bringt ihn dazu, erneut an Türen zu klopfen und wieder Fragen zu stellen.
    Mariamma hat einen einzigen Anhaltspunkt, der, wie sie weiß, nicht so bedeutungslos ist, wie Ousep glaubt. Unni hat seiner Mutter keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Er ist ohne eine Erklärung von ihr gegangen.
    Sie macht das Licht aus und wandert in der dunklen Diele umher. Sie spürt die friedliche Stille und stellt sich vor, dass sie jetzt dieselbe Leere wie Unni sieht. Was ist an dem Licht, das auf die Welt fällt, so großartig? Was an dem, was wir sehen, ist so großartig, dass eine Frau um ihren Sohn trauern muss? Aber dann fängt sie an zu weinen.
    Am nächsten Morgen wacht sie früh auf, umgeben von paradiesischen Frühstücksdüften und dem langen Pfeifen der Dampfkochtöpfe, die aus den Küchen glücklicher Menschen zu ihr

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