Das verbotene Glück der anderen
geschlagen, aber was ist, wenn er es irgendwann doch tut? Unni war tapfer. Thoma kann sich nicht entsinnen, dass er auch nur einen Moment nervös oder erregt war. Wenn Ousep betrunken nach Hause kam, tat er nie, als schliefe er. Wenn Ousep zu dicht neben ihrer Mutter stand und wie ein Idiot schäumte, stellte sich Unni zwischen die beiden. Ousep stieß ihn dann weg, doch Unni stellte sich immer wieder mit geballten Fäusten zwischen seinen Vater und seine Mutter. Normalerweise ging Unni gemächlich durchs Leben, er bewegte sich langsam und sanft, doch wenn er wütend war, wirkte er plötzlich hellwach und bedrohlich. Manchmal war es Thoma, als wohnten zwei Seelen in Unnis Brust.
Eines Nachts schlug Unni seinen betrunkenen Vater. Als hätte er keinerlei Kraft mehr, fiel Ousep einfach zu Boden und stand nicht mehr auf. Er blutete am Kopf, lag jedoch da und zitierte aus «King Lear». Unni fädelte ganz ruhig einen Faden durch einNadelöhr und nähte die Wunde auf der Stirn seines Vater. Danach sah Unni eine ganze Woche lang traurig aus und blickte niemandem mehr in die Augen.
Thoma hört Schritte, die näher kommen, dann geht die Tür auf, und es riecht nach Alkohol und süßem Zuckerrohr. Ousep ist ganz in der Nähe, wahrscheinlich steht er direkt neben Thoma, der bäuchlings auf dem Boden liegt und den Kopf in ein Kissen vergraben hat.
«Steh auf», sagt Ousep. «Steh auf, du Idiot von einem Sohn.»
Mariamma kommt ins Zimmer. Noch sagt sie nichts. Der Fels wartet.
«Steh auf», sagt Ousep.
Er packt Thoma am Ohr, zieht seinen Kopf hoch, hält ihn einen Moment am Ohr und lässt seinen Kopf wieder fallen. Doch Thoma stellt sich tot. Ousep bohrt ihm den Finger in den Rücken. «Steh auf», sagt er. Seiner Mutter reicht es, sie beschließt zu schreien. Sie ringt mit Ousep und sagt: «Lass ihn sofort in Ruhe!» Weil Thoma Angst hat, dass seine Mutter verletzt wird, wacht er auf. Ousep bringt ihn aus dem Zimmer.
Thoma sieht seinen Vater unsicher schwankend vorausgehen, mit Haaren wie Einsteins Heiligenschein, schmutzigem, nassen Hemd und herunterhängender Hose. Er ist nicht der Mann, den er jeden Morgen sieht, nicht der starke, ordentliche, wohlriechende Schriftsteller mit langem, ordentlich gekämmten Haar, nicht der elegante, gut aussehende Mann, der vier Zeitungen in drei Sprachen liest, mit einem so beständigen, klugen Blick, dass Thoma Angst um die Reporter hat, deren Artikel sein Vater liest. Morgens sieht dieser Mann haargenau so aus wie der Große Ousep Chacko aus dem Sagenschatz seiner Mutter.
In Ouseps Zimmer ist alles vorbereitet: Die Schlinge, bestehend aus einer Lungi, baumelt vom Deckenventilator, und darunter steht steif und feierlich sein Schreibtischstuhl. Ousep knietdarauf und zieht sich hoch. Dann steckt er den Kopf in die Schlinge. Thoma sitzt mit Stift und Papier an der Wand auf dem Boden. Die Überschrift hat er bereits notiert: «Nachruf auf einen gescheiterten Schriftsteller». Mariamma lehnt am Bücherregal und sieht zu.
Ousep sagt mit ruhiger, ernster Stimme: «Nachruf auf einen gescheiterten Schriftsteller.»
Thoma tut so, als schriebe er.
«Von einem Zeitungsreporter», sagt Ousep. «Gefunden wurde ein Mann, der sich in seiner Wohnung am Deckenventilator aufgehängt hat.»
Aus unerfindlichen Gründen löst dies bei Thoma fast einen Lachanfall aus. Er beherrscht sich, doch dann fängt auch seine Mutter an zu kichern.
«… Nachforschungen haben ergeben, dass der Mann Ousep Chacko hieß und einer der berühmtesten Schriftsteller war, die je an der Malabarküste geboren wurden – weitaus berühmter als all die untalentierten, verweichlichten Mistkerle, die sich heutzutage als Schriftsteller ausgeben.»
Ousep verliert ein wenig das Gleichgewicht und schwankt einen Augenblick auf dem Stuhl hin und her. Thoma schüttelt sich jetzt vor Lachen. Er versucht, an Dinge zu denken, die ihm die Kehle zuschnüren: Er denkt an Unni, doch stattdessen erscheint vor seinem inneren Auge einer von Unnis Comics. Er spielt in einem schönen Park, in dem vier Kinder auf Schaukeln sitzen. Mitten unter ihnen ist auch Ousep, der sich an seiner Lungi aufgehängt hat und glücklich mit den Kindern schaukelt.
«Thoma, du Mistkerl, das findest du auch noch witzig», sagt Ousep und betastet vorsichtig die Schlinge. Thoma prustet los, hat aber eine hysterische Angstattacke und muss gleichzeitig weinen. Mariamma geht zu ihm und führt ihn an der Hand aus dem Zimmer. Sie gehen lachend ins andere Schlafzimmer
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