Das verbotene Glück der anderen
Gemeinschaft der Frauen, die abends in der Wohnsiedlung miteinander schwatzen. Niemand erzählt ihr den neuesten Tratsch. Keine Frau ruft sie beim Namen, keine wartet am Tor, um mit ihr auf den Markt zu gehen. Keine gibt ihr Rezepte. Sie ist nur Gegenstand ihres Mitleids, was eine feige Form der Selbstbeweihräucherung ist. Sie gibt ihnen das Gefühl, sie seien besser als Mariamma. Sie bemitleiden sie wegen ihres Mannes, wegen ihres toten Sohns, und weil sie die Straße hinuntergeht und Selbstgespräche führt, mal finsterer Miene, mal lächelnd. Und dann ihre Armut – wer kann ihre Armut verstehen?
Sie besitzt viele gebundene Bücher, die sie mit Wonne liest, auch wenn sie dabei wie eine halbe Analphabetin unter jeder Zeile mit dem Finger entlangfährt. Sie hat ein Telefon. Sie hat die strahlend helle Haut der Oberklasse, ist eine diplomierte Wirtschaftswissenschaftlerin, und in den Augenblicken ihres Wahnsinns ruft sie den Namen von Milton Friedman und beklagt sich bei ihm über die Idiotie des Sozialismus. Doch in diesem Haus werden Colgatetuben ausgedrückt, bis sie nur noch platte, dünne Streifen aus gemartertem Metall sind. Danach werden sie ein paar Tage lang mit Zahnbürsten und Zeigefingern malträtiert. Die Zahnbürsten landen erst im Abfalleimer, wenn sie fast alle Borsten abgeworfen haben, und nach diesem herbstlichen Zahnbürstentod putzen sich die beiden diplomierten Akademiker und ihr Sohn die Zähne mit den Fingern, bis Mariamma irgendwie neue Zahnbürsten hervorzaubert. Seife wird verwendet, bis sie in Körperspalten verschwindet. Ousep hat noch vor Augen, wie Mariamma eine leere Ölflasche anstarrte, die umgekehrt in einer Bratpfanne stand.
Ohne sich zu ihm umzudrehen, sagte sie: «Der letzte Tropfen,Ousep Chacko, ist in diesem Haus keine rhetorische Übertreibung. Wie man sieht, gibt es ihn wirklich.»
«Was für ein grotesker Anblick, Mariamma Chacko. Ich dachte, du hättest mehr Stilgefühl.»
Das brachte beide zum Lachen. Ihr Gelächter wurde immer lauter, es wurde zu einem Wettkampf, in dem keiner von beiden klein beigeben wollte.
Das von einem alten Laken umhüllte Schaumgummisofa in der Diele hat in der Mitte ein riesiges, unsichtbares Loch. Den Vermieter, der jeden Monat kommt und lauthals die Miete einfordert, hat Mariamma nur ein einziges Mal hereingebeten; sie ließ ihn auf dem Sofa Platz nehmen und lachte, als er in dem Loch versank. Es kommen noch andere Männer, die ihr Geld haben wollen, unter ihnen ein gewaltiger, rotgesichtiger afghanischer Geldverleiher, ein Pathane in Salwar Kameez und ärmelloser Weste, der Thoma nur halb im Spaß die Hand verdreht. Außerdem ein trauriger Buchverkäufer, der um die Begleichung der Rechnung für Bücher bittet, die er vor fünf Jahren geliefert hat – das Gesamtwerk von Shakespeare, alle berühmten griechischen Tragödien, fünfzehn Bände
Encyclopaedia Britannica
und die besten Englischen Short Stories aus unschuldigen Zeiten, als Short Stories noch richtige Geschichten waren.
Die Chackos sind arm, weil Ousep arm ist und zu stolz, um sich einzuschränken. Er ist nicht arm, weil er trinkt. Abstinenzler verstehen Trinker nicht. Ousep braucht für Alkohol kein Geld – er hat viele Freunde, die ihm Drinks spendieren. Trinker haben immer viele Freunde, das liegt in ihrer Natur. Und zwar, weil Männer an anderen Männern vor allem die tragischen Verfehlungen liebenswert finden. Deshalb gehen Alkoholikern nie die Freunde aus. Bei Tageslicht betrachtet, ist Ousep zu stark und zu klug, ein typischer Einzelgänger. Doch wenn es Nacht wird, passt er zu allen anderen Männern.
Er nimmt den Schraubenzieher, öffnet die Rückwand des seit langem kaputten Radios und holt die zusammengefalteten Blätter heraus. Es ist Unnis letzter Comic, den er an dem Morgen, als er starb, abgeschlossen hat. Der Titel lautet:
Wie soll man es nennen
.
Ousep ist nicht imstande, dem Comic einen Sinn zu entlocken. Nur Mariamma könnte ihn enträtseln, doch das Problem ist, dass sie eine wichtige Rolle darin spielt, also Teil des Rätsels ist, und das ist bizarr. Wahrscheinlich verbirgt sie ihm etwas Wichtiges über den Jungen. Aber wieso? Wenn Ousep ihr mit diesem Comic beweisen will, dass sie in Unnis rätselhaften Tod verwickelt ist, muss er dafür den richtigen Zeitpunkt wählen. Sie ist schlau. Doch auch er ist schlau. Die beiden können sich das Wasser reichen – und sind nur einander ebenbürtig.
Als Unni vor drei Jahren starb, hatte er sich vorgenommen, eine
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