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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manu Joseph
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einziger Fluchtweg.
    Unni springt hinunter und hebt einen Stein vom Boden auf. Er stellt sich ans Tor, versperrt dem Hund den Weg und wirft den Stein. Der Stein soll den Hund nicht treffen, doch das weiß der Hund nicht. Er rennt zur hinteren Mauer und versucht, hinaufzuklettern, aber die Mauer ist zu hoch, und der Hund hat vermutlich noch nie eine Mauer erklommen. Er steht mit heraushängender Zunge davor und wirkt ratlos. Unni wirft noch einen Stein und trifft die Wand. Der Hund versucht wieder, die Mauer hinaufzuklettern, rutscht ab und fällt hin. Er rennt zur anderen Mauer, dreht sich im Kreis herum, rennt auf Unni zu und macht wieder kehrt, konfus und völlig verängstigt. Schließlich geht er zur Grundstücksmauer und stellt sich schicksalsergeben vor Unni. Auch die anderen Jungen springen jetzt hinunter und heben Steine auf. Sie treffen nicht den Hund, sondern die Wand,doch der Hund hat große Angst. Er gibt Laute von sich, die man normalerweise nicht mit Hunden verbindet. Er springt die Mauer an, springt in die Luft und benimmt sich immer mehr wie ein außerirdisches Wesen. Ein paar Steine treffen ihn jetzt. Er jault auf und rennt auf dem Pfad hin und her. Daraufhin sagt Unni, sie sollten den Hund jetzt in Ruhe lassen. Alle gehen zurück auf die Dachterrasse. Der Hund stürmt zum Tor und entkommt. Er rennt die gesamte Straße hinunter und verschwindet schließlich um die Ecke. Und das war’s – das wollte Ilango erzählen.
    «Was für ein Gefühl hattest du dabei?», fragt Ousep.
    «Wobei?»
    «Bei dem, was mit dem Hund geschah. Als er herumrannte und diese Töne von sich gab, mit Angst in den Augen.»
    «Es war fürchterlich.»
    «Ja, fürchterlich.»
    «Anders kann man es gar nicht sehen.»
    «Stimmt das denn?»
    «Ja. Ich weiß nicht, was in uns gefahren war. Wir waren wie Gassenjungen, die zum Spaß Chamäleons steinigen.»
    «Hat Unni den Hund getroffen?»
    «Nein. Als wir alle unten waren, hat er keine Steine mehr geworfen.»
    «Interessant, dass du das noch weißt. Ein kleines Detail einer belanglosen Begebenheit nach so langer Zeit.»
    «Ich weiß nicht, warum ich mich daran erinnere.»
    «Hast du den Hund getroffen?»
    «Nur ein einziges Mal. Ich habe auf die Mauer gezielt, aber der Hund ist dazwischengeraten.»
    Der Hund ist dazwischengeraten, sagt er. Ein Straßenköter sitzt in der Falle und ist obendrein vermutlich potthässlich, was seine Lage noch verschlimmert. Er ist machtlos, auf skurrile Weise verängstigt und heult beinah. Zuckt es da einem HaufenJungen mit Steinen in den Händen nicht in den Fingern? Dieser Junge behauptet, er habe auf die Mauer gezielt. Er habe nur sehen wollen, wie der Hund reagieren würde, wollte ihm nicht wehtun, wollte nicht hören, wie der Stein auf seinen Leib prallt und wie der Hund aufjault.
    «Warum hat er dieses ganze Spiel deiner Meinung nach angefangen?», fragt Ousep.
    Der Junge mustert seine Tasse. Sein unglücklicher Blick auf die Tasse und das Schweigen, in das er sich hüllt, lassen ihn für einen Moment intelligent aussehen. Dann sagt er: «Sie nennen es ‹Spiel›, warum verwenden Sie dieses Wort?»
    «Weil ich glaube, dass Unni manchmal bestimmte Dinge tat, um zu sehen, wie andere reagieren.»
    «Ja», sagt der Junge erleichtert, «das glaube ich auch. Wie andere reagieren, hat ihn außerordentlich interessiert. Er betrachtete es als ein Spiel – das ist genau das richtige Wort.»
    «Waren die beiden anderen auch dabei, als der Hund mit Steinen beworfen wurde?»
    «Wen meinen Sie?»
    «Somen Pillai und Sai Shankaran.»
    «Ja, sie waren beide da. Die drei waren unzertrennlich. Immer flüsterten und lachten sie miteinander, als spielten sie heimlich ein Spiel und als seien alle anderen Idioten, die nicht merkten, was im Gange war. Das war zumindest die Haltung von Unni. Ihm gegenüber fühlte man sich oft klein und dumm.»
    Die Stimme des Jungen klingt jetzt überraschend kräftig, alle schwächenden nostalgischen Gefühle sind einer machtvollen Verachtung gewichen, jener tiefen Verachtung für einen Freund, der klüger ist als man selbst.
    «Alle haben immer gesagt, die drei führen etwas im Schilde», sagt der Junge. Er sagt «die drei», als hätte er völlig vergessen, dass einer von ihnen Ouseps toter Sohn ist.
    «Die drei», sagt Ousep leise. «Was genau war mit ihnen? Was taten sie deiner Meinung nach?»
    «Es war, als teilten sie etwas, zu dem andere keinen Zugang hatten. Wie an dem Tag damals. Als wir wieder auf der Dachterrasse waren und

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