Das verbotene Glück der anderen
mit einer Nonne aus dem St.-Teresa-Kloster trafen? Einer Nonne, die das Schweigegelübde abgelegt hatte.»
«Nein», antwortete der Junge kopfschüttelnd und kicherte, «aber sie haben bestimmt eine ganze Menge sinnlose Dinge getan.»
Auf der Straße taucht ein splitternackter Mann auf. Er hat einen Kanister in der Hand und bewegt sich wie ein normaler Passant. Als er sicher weiß, dass alle Augen auf ihn gerichtet sind, schüttet er sich den Inhalt des Kanisters über den Kopf. Es muss Kerosin sein, denn der Mann glänzt jetzt im Sonnenlicht. Er joggt los und schreit, er werde sich anzünden, wenn die Sri-Lanka-Tamilen nicht sofort gerettet würden. Er rennt durchs Getümmel und fragt nach Streichhölzern. Die Leute zerstreuen sich, weil sie nicht genau wissen, ob sie die Flucht ergreifen oder dableiben und zusehen sollen. «Streichhölzer», sagt der nackte Mann, während er rennend große Kreise zieht. Als er näher kommt, reicht Ousep ihm lethargisch seine Schachtel Streichhölzer. Der Mann ignoriert ihn, rennt weiter geradeaus und bittet um Feuer. Als die Polizisten ihn schließlich abführen, wirkt er wie in Ekstase.
~
Zum ersten Mal in seinem Leben wartet Ousep Chacko auf eine Nonne. Er befindet sich im St.-Teresa-Kloster und sitzt im leeren Besucherraum auf einer Holzbank. Gespenstische Echos liegen in der Luft, die etwas Düsteres, Altertümliches vermitteln, als stammten sie von früher, aus den gewalttätigen Zeiten, in denen die Religionen entstanden, als das Böse schließlich das Gute besiegte und sich in einem besonders raffinierten Geniestreich selbst in Gut und Böse aufspaltete.
Am anderen Ende des Raumes befindet sich ein Türchen, als wohnten dahinter Liliputaner. Dass es sich überhaupt je öffnet, kann man sich kaum vorstellen, so fest verschlossen sieht es aus. Doch dann geht es leicht und lautlos auf, und sechs schwarze Soutanen erscheinen und starren ihn an. Eine nickt den anderen zu und kommt dann zu ihm. Die anderen gehen wieder zurück und schließen die Tür hinter sich. Der Mann ist in Ordnung, haben sie entschieden. Ein harmloser Mann von anno dazumal. Dass er im Bruchteil einer Sekunde von einem aus Jungfrauen bestehenden Schwesternorden als ungefährlich betrachtet wird, kränkt ihn irgendwie.
Die Nonne mittleren Alters hat ein Notizbuch und einen Füllfederhalter in der Hand. Sie setzt sich neben ihn auf die Bank, ein Stückchen weiter von ihm entfernt, als nötig gewesen wäre. Er hat sie vierundzwanzig Jahre lang nicht gesehen, kann jedoch ihre jugendliche Erscheinung bruchstückhaft wiedererkennen und fragt sich, wie sie ihn jetzt sieht.
Sie stammt aus demselben Dorf wie er. In seiner Erinnerung ist sie ein verschlafenes Mädchen mit acht jüngeren Geschwistern, die wie Ferkel hinter ihrer Mutter herliefen, wenn sie auf dem Weg zum Sonntagsmarkt an seinem Haus vorbeikamen. Dann wuchs sie zu einem jener blühenden jungen Mädchen heran, die mit Collegebüchern in der Hand und mit dichtem, dunklem, vom Baden noch feuchtem Haar an der Bushaltestelle standen und über die Busfahrer kicherten, die allesamt hellhäutig waren. Um ihr Armut zu ersparen, beschloss ihr Vater eines Tages, sie solle Nonne werden. Kurz bevor sie ins Kloster ging, hatten die Männer, selbst die frommen unter ihnen, nur einen einzigen Gedanken, wenn sie sie die Dorfgassen entlanggehen sahen: dass nun ein straffer, junger Körper, den noch kein Mann berührt hatte, vergeudet wurde. Nach ihrem Eintritt ins Kloster riss sie zweimal aus und kam nach Hause zurück.Nach dem dritten Versuch fügte sie sich dann in ihr Schicksal.
Heute hat sie einen leeren, friedlichen Gesichtsausdruck, der nicht auf eine Niederlage schließen lässt. Es geht ihr gut, sie ist glücklich, so glücklich wie alle anderen. Das ist Unnis These – dass das Glück unvermeidlich ist und hartnäckig. Glück ist nichts, wonach man zu streben braucht, sondern unentrinnbares Schicksal.
Sie kam zu Ouseps Hochzeit, als einzige Nonne. Für eine Nonne war sie sehr hübsch und wegen ihrer Ausreißversuche aus dem Kloster ebenso berühmt wie ein paar legendäre Mädchen, die mit Hindumännern durchgebrannt waren. Seitdem hat Ousep sie nicht mehr gesehen. Doch Mariamma hat ihr öfter geschrieben und sie sogar getroffen, vermutlich mit der irrsinnigen Vorsicht einer Frau, die Freunde der Familie ihres Mannes trifft, aber wohl auch mit der gespannten Nervosität einer guten Christin, die einer Ordenstracht begegnet.
Das Schweigegelübde erspart
Weitere Kostenlose Bücher