Das verbotene Glück der anderen
beiden die Aufwärmphase sowie die heitere Vorstellung, einander für alt zu erklären.
«Du kannst jetzt reden», sagt Ousep gutmütig. «Keiner sieht uns, und wir wissen beide, dass es keinen Gott gibt.»
Ihr Lächeln gibt ihm zu verstehen, dass sie ihm bereits vergeben hat. Er erzählt ihr, was ihn zu ihr führt. Sie sieht aus, als habe sie sich schon gedacht, dass er deswegen irgendwann zu ihr kommen würde. In gutem Malayalam und schöner, sparsamer Schrift schreibt sie auf ihren Notizblock, dass sie sich gleich in ein Eckchen setzen und alles aufschreiben wird, woran sie sich noch erinnert. Genau das wünscht sich Ousep von allen. Dass sie ihn von ihrer Gesellschaft erlösen und in einem weit entfernten Eckchen sorgfältig gegliedert zu Papier bringen, was sie noch über Unni im Gedächtnis haben.
Sie schreibt ihm schnell, er möge ihr verzeihen, dass sie ihmkeinen Tee angeboten hat – eine Ehre, die ihr verwehrt ist. Dann setzt sie sich auf eine circa sechs Meter entfernte Bank, die mit einem Schreibtisch verbunden ist, und gibt ihm eine halbe Stunde später einen Stapel Papier.
Unni Chacko, Somen Pillai, Sai Shankaran – in dieser Reihenfolge hat sie die Namen notiert. Er fragt sie, warum Somens Name vor Sais Namen steht. Sie schürzt die Lippen, um zu verstehen zu geben, dass die Reihenfolge keine Rolle spielt. Sie sitzt da und starrt zu Boden. Anscheinend möchte sie nicht, dass er schon geht. Sie schreibt auf ihren Block: «Warum hat er es getan?»
«Das möchte ich ja herausfinden», sagt Ousep.
«Hast du eine Vermutung?», schreibt sie.
«Nein, und du?»
Sie schüttelt den Kopf.
«Unni hat seinen Freunden etwas sehr Seltsames erzählt», sagt Ousep. «Und zwar hat er gesagt, er kenne eine Leiche. Kannst du dir einen Reim darauf machen?»
Sie schüttelt den Kopf. Dann erhebt sie sich, legt die Handflächen aneinander und geht weg, wobei sie sich wie ein Kind die Augen reibt.
Ousep liest ihren Bericht. Vor etwa fünfzehn Jahren wurde sie von Kerala nach Madras versetzt. Damals hatte sie noch kein Schweigegelübde abgelegt. Mariamma hatte irgendwoher erfahren, dass die Nonne nun in Madras war, und stattete ihr mindestens einmal pro Monat einen Besuch ab, bei dem sie dann über gemeinsame Bekannte plauderten. Irgendwann nahm sie Unni zu diesen Besuchen mit. Er mochte acht Jahre gewesen sein, als er zum ersten Mal ins Kloster mitkam und in just diesem Besucherzimmer saß. Er war «außerordentlich schön und hatte weiches, gelocktes Haar». Vermutlich war er von ihr fasziniert und starrte sie deshalb fortwährend an. Als er größer und älter wurde,kam er nicht mehr so oft, doch Mariamma besuchte sie weiterhin einmal im Monat. Nur während des Monsuns begleitete Unni seine Mutter immer und hielt auf dem Weg zum Kloster den Schirm über sie. Bei einem von Mariammas Besuchen gab ihr die Nonne einen Zettel, auf dem stand, sie habe als Opfer für Christus ein Schweigegelübde abgelegt. Mariamma war klar, dass die Treffen mit ihr nun keinen Sinn mehr hätten, denn wozu sollte eine Nonne gut sein, die kein Wort sagte? Zwei Jahre später jedoch kam Unni, der inzwischen siebzehn war, mit zwei anderen Jungen zu Besuch. Die drei besuchten sie sechs Mal und immer unangekündigt. Sie stellten ihr viele Fragen, die jedoch allesamt auf dasselbe hinausliefen. Sie wollten wissen, ob ihr aufgrund ihres Schweigens irgendetwas Besonderes widerfahren sei.
Sie geht davon aus, dass die drei verblüffende Offenbarungen von ihr erwarteten, aber sie hatte nichts Bemerkenswertes zu berichten. «Eine Art Ruhe kehrt in einen ein, wenn man sehr lange Zeit nicht redet, eine sanfte Traurigkeit – nichts weiter.» Als sie ihnen auf einen Zettel schrieb, dass sie ganz selten doch einmal sprach, nämlich, wenn die Mutter Oberin nach ihr verlangte, waren sie tief enttäuscht. Die Antworten aufzuschreiben, war sehr mühsam für sie, und ihre Treffen mit drei Halbwüchsigen waren im Kloster nicht gern gesehen. Daher bat sie die Jungen schließlich, nicht mehr wiederzukommen.
«Sie hatten etwas Besonderes an sich – Gottes Licht lag auf ihren Gesichtern. Aber sie waren auch irgendwie seltsam. Sie suchten etwas, und ich hatte nicht das Gefühl, ihnen weiterhelfen zu können. Unni war entspannt und höflich. Er fragte sehr wenig, hörte jedoch sehr aufmerksam zu. An mir hatte er wohl seinen besonderen Spaß. Einmal hat er mich gefragt, ob ich glücklich sei. Wie seltsam, das hatte mich noch nie jemand gefragt. ‹Ja›, sagte ich
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