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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manu Joseph
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denselben, die, einzeln betrachtet, wahrscheinlich keine Bedeutung haben. Sie küssen in einem fort ihre Fingerspitzen, so, als bettelten sie einen Mann, der sich zu Tode hungert, um Essen an. Doch dann zeigt ihm eine Frau eine Banane, und jetzt wird klar, dass sie ihn bitten, etwas zu essen, sie bitten ihn inständig, nicht zu verhungern. Wahrscheinlich kommen sie aus seinem Dorf. Jemand muss ihnen gesagt haben, dass ein Sohn ihrer Erde beschlossen hat, sein Leben für die Sache der Tamilen zu opfern. Also hat sich der Trupp unterernährter Frauen aufgemacht, um den Mann davon abzubringen, dessen voller Bauch wie etwas ihm Liebes und Teures auf seinemSchoß liegt. Er blickt die Frauen mit tapferer Düsterkeit an, und sie klagen noch lauter. Wahrscheinlich muss er jetzt ein Lachen unterdrücken und macht deshalb ein ernstes Gesicht. Und dann richtet er in einem meisterhaften Schachzug den Tischventilator auf die Frauen. Das plötzliche Lüftchen bringt die Frauen zum Lachen. Sie versuchen von Neuem, zu weinen, doch ihre Lungen sind jetzt müde, und sie verstummen bald, setzen sich auf die Straße und schwatzen miteinander.
    Diese ganze bestialische Armut wird eines Tages verschwunden sein. Die Generationen der Zukunft werden nicht mehr wissen oder auch nur ahnen, was echte Armut bedeutet, die bis in die graue Vorzeit der Menschheitsgeschichte zurückreicht. Ob man sie nicht vielleicht irgendwie erhalten sollte, so wie alte Gebäude aus der Kolonialzeit? Sollte man tiefe Armut nicht als historisches Beweisstück unter Denkmalschutz stellen? Genau das versuchen die Sozialisten, mit diesem Land zu tun. Sie werden von allen missverstanden. Es sind edelmütige Naturschützer, die harte Arbeit leisten, um eine Welt in einem bestimmten Zustand zu konservieren.
    Wie alle gut unterrichteten jungen Leute damals waren auch Ousep und Mariamma einst Sozialisten, schlanke, verliebte Männer und Frauen, die dachten, sie wüssten, wie man die Welt verbessert und zu einem Ort macht, der ihren Betten an Glück in nichts nachsteht. Doch Mariamma war nicht so naiv wie Ousep. Den Kopf auf seiner nackten Brust und das offene Haar über seinem Gesicht, sagte sie eines Abends zu ihm: «Eine Ideologie, die die menschliche Natur überschätzt, muss doch scheitern. Sieh dir die Welt an, Ousep, überall führen nur die Ideen zum Erfolg, die die Natur des Menschen nicht idealisieren.» Ousep zitierte sie in seiner beliebten Sonntagskolumne. Nur ganz wenige Journalisten konnten sich erlauben, ihre eigenen Frauen zu zitieren, doch damals wurde jede von Ouseps Schrullen sofortals Mode gepriesen. Auch die anderen Schriftsteller zitierten daraufhin in ihren ernsten, politischen Kolumnen die eigenen Frauen – im Journalismus war das eine Weile der letzte Schrei, bis es zwangsläufig zur Farce wurde und wieder verschwand.
    Ilango stört sich nicht an den Frauen, er hat zu dem, was gerade passiert ist, keinerlei Zugang. Aber er zeigt auf die Frauen und sagt: «Unni zufolge sind diese Frauen nicht so traurig, wie alle glauben. Sie sind glücklich. Unni zufolge ist jeder glücklich. Und diejenigen, die unglücklich sind, machen sich nur etwas vor. Für eine Intelligenzbestie wie Unni war das eine merkwürdige Ansicht.»
    Ilangos Augen werden matt, während er ruhig an seinem Tee nippt. Eine Weile sagt er nichts, dann fängt er an zu lachen, sagt aber immer noch nichts. Ousep drängt ihn nicht, er wartet ab.
    «Im zwölften und letzten Schuljahr fing Unni an, Dinge zu tun, die er früher nie getan hatte», sagt der Junge. «Wenn der Lehrer nicht im Klassenzimmer war oder während der Mittagspause, immer wenn die Klasse ohne Aufsicht war, ging er nach vorne, schwang sich auf den Lehrertisch und stand dann dort oben, ohne einen Ton zu sagen, da, bis das Gemurmel verstummte und alle Augen auf ihn gerichtet waren. Dann fing er an, uns Geschichten zu erzählen, seine eigenen Geschichten. Und wenn Unni zu erzählen anfing … also, wie soll ich sagen? Ich bin nicht sehr gescheit. Ich kann nicht richtig ausdrücken, was ich damals empfunden habe. Wenn Unni auf diesem Tisch stand und eine Geschichte erzählte, konnte man eine Stecknadel fallen hören. Wenn er sprach, hatte man Bilder vor Augen, sah Gesichter und roch Dinge, von denen man nie gedacht hätte, dass sie einen Geruch haben.»
    Auch das hat Ousep schon viele Male gehört. Dass eine ganze Klasse Teenager verstummte, wenn Unni sich dem Tisch näherte und mit einem geschmeidigen, sportlichen Sprung auf

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