Das verbotene Glück der anderen
ihmlandete. Das dramatische Schweigen, das alle infizierte und das letzte Kichern erstickte. Seltsam ist nur, dass ein paar Jungen behaupten, nichts davon sei wahr, oder dass sie sich nicht daran erinnern, Unni je so gesehen zu haben. Das ist merkwürdig. Für einen derartigen Auftritt muss es viele Zeugen gegeben haben, und er hat höchstwahrscheinlich auch stattgefunden. Warum leugneten ihn dann viele Jungen? Noch seltsamer ist, dass diejenigen, die schildern, wie Unni seine Geschichten erzählte, sich selbst an keine einzige von diesen Geschichten erinnern.
«Kannst du dich an eine von Unnis Geschichten erinnern?»
«Nein.»
Das war kurz und knapp.
«Du erinnerst dich haargenau daran, wie Unni seine Geschichten erzählt hat, kannst dich aber an keine einzige von seinen Geschichten erinnern?»
Ilangos großer, ausdrucksvoller Adamsapfel hüpft auf und ab, als hinterfrage er sich plötzlich.
«Ich weiß sie nicht mehr. Und ich frag mich, warum.»
Ousep steckt sich seine Zigaretten an. «Rauchst du?», fragt er.
Der Junge schüttelt beinah pikiert den Kopf. «Warum rauchen Sie zwei Zigaretten auf einmal?», fragt er in übertrieben respektvollem Ton.
«Weil drei zu viel sind», sagt Ousep.
Der Junge weiß nicht, ob es sich um einen Scherz handelt, und nickt. Er sieht kurz weg und stellt dann die Frage, die zwangsläufig kommen musste: «Es heißt, Sie hätten etwas über Unni herausgefunden. Stimmt das?»
«Ich habe die Suche nie aufgegeben, Ilango, nie. Und jetzt, nach drei Jahren, bin ich wieder da, weil ich dachte, du siehst jetzt vielleicht ein paar Dinge anders.»
Ein Kellner mit nacktem Oberkörper und schmutzigen Händen bringt den Tee und summt dabei einen Filmsong über Blumenund Bienen. Ilango trinkt seinen Tee schlückchenweise und bedächtig. Und dann fängt er an, ein Wohnviertel zu beschreiben, erklärt, wie man am besten dorthin gelangt – die typisch tamilische Art des Geschichtenerzählens, bei der man einen Ort mit der Detailtreue einer Postanschrift schildert. In dem Viertel wohnen mehrere Filmregisseure. «Manche haben eine Geliebte», sagt Ilango und hält verlegen inne. Dass er das Wort «Geliebte» in Gegenwart des Vaters eines Freundes benutzt hat, ist ihm peinlich.
«Schon gut, du bist doch kein kleines Kind mehr», sagt Ousep. «Du und ich, wir sind beide Männer. Was ist mit den Geliebten?»
«Unni hat gesagt, die Geliebten wohnen immer im Erdgeschoss. Nie in den oberen Etagen. Das ist ihm aufgefallen, und er wollte unbedingt wissen, warum. Das war alles», sagte der Junge demütig, als gestehe er sich ein, dass diese Äußerung den Tee nicht wert war, den Ousep ihm spendiert hat. «Mir ist klar, dass das nichts bedeutet. Eigentlich ist es nichts Besonderes. Ich weiß nicht, ob Sie etwas damit anfangen können.»
«Das hilft mir durchaus weiter. Genau solche Lappalien brauche ich.»
«Ach ja?»
«Die anderen Jungen verstehen einfach nicht, was ich will. Sie versuchen, ihre Meinung kundzutun. Doch du bist ein kluger Junge. Dein Gedächtnis ist interessant.»
«Vielen Dank.»
«Hat Unni herausgefunden, warum die Geliebten nur in den Erdgeschosswohnungen untergebracht sind?»
«Ich weiß nicht. Aber er war sich sicher, dass es einen Grund dafür gab.»
Der Junge stellt die Tasse auf den Tisch und wischt sich den Mund mit den Fingern ab. «Was fällt mir noch zu Unni ein?», sagt er und wirkt einen Moment lang gedankenverloren. Eine Erinnerunglenkt ihn ab, und er fragt sich vermutlich, ob er sie artikulieren soll. Er starrt auf die fastenden Männer, ohne sie anzusehen. Dann trifft er seine Entscheidung. «Ich kann mich noch an etwas anderes erinnern», sagt er langsam und deutlich.
Eines Abends ist er mit Unni und ein paar anderen Jungen bei einem Freund. Der Freund wohnt in einem Häuschen mit einem ungepflasterten Weg, der vom Eingangstor zu einer hohen Grundstücksmauer führt. Die Jungen stehen auf der Dachterrasse. Von dort bis zum Boden sind es nicht mehr als dreieinhalb Meter. Das Tor ist abgeschlossen, doch ein streunender Hund schlüpft zwischen den Gitterstäben hindurch. Er sieht die Jungen auf der Dachterrasse nicht. «Hunde blicken normalerweise nicht nach oben», sagt Ilango. «Das hat Unni immer gesagt – warum, weiß ich auch nicht. Kein Tier blickt nach oben.» Der Hund läuft den Weg entlang, einen etwa zweihundert Meter langen, schmalen Pfad, der zwischen der hohen Grundstücksmauer und der Hausmauer verläuft. Wenn es brenzlig wird, ist das Tor sein
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