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Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manu Joseph
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Streik.
    Ousep steckt sich zwei Zigaretten an und führt den Jungen zu einer Teebude, die auf dem betonierten Gehsteig errichtet wurde. Auf wackligen Holzschemeln sitzen sie einander gegenüber, einen Tisch mit zerbeulter Aluminiumfläche zwischen sich. Eine Weile starren sie schweigend auf die fastenden Männer auf der anderen Straßenseite.
    «Du weißt, warum ich dich sprechen wollte», sagt Ousep.
    «Ja. Bitte fragen Sie mich alles, was Sie wollen, Onkel. Ich bin richtig neugierig: Was ist passiert? Warum stellen Sie wieder Fragen über Unni? Ich hab gehört, dass Sie mit fast allen aus seiner Klasse gesprochen haben. Hoffentlich ist nichts Schlimmes geschehen.»
    «Alles ist in bester Ordnung. Gehen wir mal davon aus, dass es ganz unwichtig ist, warum ich Fragen zu Unni habe.»
    «Ich weiß nicht, warum er’s getan hat», sagt Ilango, «ich weiß es wirklich nicht. Nach der zentralen Oberstufenabschlussprüfung hatte ich keinen Kontakt mehr zu ihm. Als er es tat, waren die Prüfungen schon wochenlang vorbei. Ich hab erst viel später davon erfahren.»
    «Deswegen bin ich nicht hier. Ich will mehr über Unni wissen. Das ist alles. Erzähl mir einfach, woran du dich erinnerst. Ich will den Unni kennenlernen, der in die zwölfte Klasse ging, das letzte Schuljahr, und wie er in den letzten Monaten vor seinem Tod war. Wie hat er sich mit siebzehn in der Klasse verhalten?»
    Ilango blickt konzentriert auf ein Stückchen Straße. Wahrscheinlich versucht er, seinem Gedächtnis etwas Wichtiges zu entlocken, etwas von Bedeutung. Jeder will eine gute Geschichte erzählen, und das ist das Problem.
    Wenn Ilango redet, verliert seine Stimme all ihre raffinierte Bescheidenheit. Mit intensiver Zuneigung erzählt er von einemFreund, der schüchtern war und gern zeichnend in einer Ecke saß, aber jederzeit ansprechbar war. Ousep hat dies schon viele Male gehört. Unnis Reserviertheit, die beim kleinsten Freundschaftsanzeichen verschwand.
    «Unni hat nicht viel geredet», sagt Ilango. «Ich glaube, er wollte in Ruhe gelassen werden. Aber wenn man zu ihm hinging und mit ihm redete, hörte er einem genau zu, fast wie ein Mädchen. Er hatte Interesse an dem, was man ihm sagte. Beim Sprechen wusste man, dass er sich genau vorzustellen versuchte, was man in Gedanken sah. Und dann fragte man sich immer, was denn an dem, was man ihm erzählte, so wichtig sein konnte.»
    «Kannst du dich an ein Gespräch mit ihm entsinnen?»
    «Einmal habe ich ihm von einer Katze ohne Schwanz in meiner Straße erzählt. Ihr Verhalten, wie sie rannte und so. Ich weiß nicht, wieso. Er hat mich dann gefragt, ob ich glaubte, dass die Katze von ihrer Schwanzlosigkeit wisse. Woher soll ich so was wissen? Aber so war er nun mal.»
    «Warum war er deiner Meinung nach so?»
    «Keine Ahnung. Ich glaube, er hat gerne Informationen gesammelt. Und er hat viele seltsame Fakten gewusst. Aber, ob es echte Fakten waren, weiß ich eigentlich nicht. Eines Tages hat er zu mir gesagt, den stärksten Alk der Welt gebe es in Kerala. Er heißt Jesus Christus.»
    «Das stimmt», sagt Ousep.
    «Und wieso heißt er Jesus Christus?»
    «Wer ihn trinkt, steht erst am dritten Tag wieder auf.»
    Ilango steht mit offenem Mund da, kratzt sich am Kinn und blickt umher.
    «Manchmal hat er total seltsame Sachen erzählt, die einfach nicht stimmen können», sagt er.
    «Zum Beispiel?»
    Ilango reibt sich die Nase. Er versucht nicht, sich zu entsinnen,sondern, zu einer Entscheidung zu gelangen. «Eines Tages kam er zu mir und sagte: ‹Ich kenne eine Leiche.› Ich habe ihn gefragt, was er damit meint, aber er hat nur gelacht.»
    «Und was hat er damit gemeint?»
    «Weiß der Himmel, was.»
    «Er hat also gesagt: ‹Ich kenne eine Leiche›?»
    «Ja.»
    «Und was bedeutet das?»
    «Ich hab keine Ahnung.»
    Ousep ist bestürzt über das Klagegeschrei der Frauen. An die zwanzig Dörflerinnen stehen auf der anderen Straßenseite hinter der hölzernen Barrikade, dem fastenden Anführer zugewandt, dem Mann, der den Tischventilator neben sich stehen hat. Sie schlagen sich auf die Brust und geben Klagelaute von sich, können aber als Neuankömmlinge eine leichte Verwunderung nicht verbergen. Sie weinen ohne Konzentration, richten die Blicke überallhin, sogar zum Himmel, den sie doch sehr gut kennen. Sie tragen zerlumpte Saris ohne Sariblusen, ihr Haar ist verfilzt und braun vor Staub. Die meisten sind alt, manche auch blutjung, jedoch verroht. Ihr Klagegeschrei besteht aus nur drei Worten, immer

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