Das verbotene Glück der anderen
verkaufen?»
«Du weißt doch, dass ich das schon ein Leben lang tue. Alle meine Goldarmreifen haben sich in deine Kacke verwandelt, oder?»
«Aber verkauf nicht alles», sagt Thoma, «ein paar Sachen solltest du wirklich nicht verkaufen.»
«Was glaubst du, wie ich sonst an manchen Tagen unser Essen auf den Tisch bekomme?»
«Nächstens fragst du mich wenigstens vorher.»
«Ich frag dich nur, ob du Hunger hast, Thoma.»
Sie gehen aus der Wohnung und lassen die Tür offen. Auf der anderen Seite des kurzen Korridors wohnt Mythili. Die Tür zu ihrer Wohnung hat etwas Arrogantes. Noch so ein glückliches Zuhause, zu dem die Chackos keinen Zutritt haben. Sie stehen vor der Tür und warten. Thoma hofft, dass Mythili eine Zeitung in der Hand hat, wenn sie die Tür aufmacht, und dass sie dann auf die Schlagzeile deutet und fragt: «Thoma, hast du eine Ahnung, was KGB bedeutet?»
«Vor drei Jahren waren wir das letzte Mal bei ihnen», sagt Mariamma in dem Ton, in dem sie Tatsachen zu konstatieren pflegt. «Direkte Nachbarn, anständige Leute, und doch waren wir drei Jahre nicht bei ihnen. Erst jetzt fällt mir auf, wie seltsam das ist.»
«Sie wollen uns eindeutig nicht bei sich haben», sagt Thoma. «Keiner will uns, siehst du das nicht?»
«Das stimmt nicht, Thoma. Mythili lächelt mir immer zu.»
«Es ist nur ein halbes Lächeln, siehst du das nicht? Früher hat sie dich geliebt. Aber jetzt ist alles anders.»
«Sie liebt uns immer noch, Thoma. Nur ist sie jetzt erwachsen, das ist alles. Sie kann sich nicht mehr wie ein kleines Mädchen benehmen.»
«Ihre Mutter hasst uns eindeutig. Diese Elefantenfrau.»
«Sag so was nicht, Thoma. Von ihrem Balkon aus redet sie viel mit mir.»
«Nicht sie redet mit dir, sondern du redest mit ihr. Sie nickt bloß und hängt ihre Unterwäsche auf die Leine. Sie sieht dich nicht einmal an.»
Doch Mariamma hört ihm nicht mehr zu. Sie lächelt Mythilis Kokosfasermatte an und denkt an etwas anderes, was wahrscheinlich nicht das Geringste damit zu tun hat, vielleicht an einen unvergesslichen Vogel, den sie als Kind gesehen hat. So ist Mutter nun einmal. Sie ist wirr im Kopf. Doch im Moment wirkt sie normal, friedlicher und weiblicher als zu Hause. Das macht sie hübscher, sie wirkt sogar glücklich und weise. Was sie auch ist, selbst wenn das nicht alle wissen.
«Mythili war damals erst dreizehn, vor drei Jahren war sie nur ein kleines Mädchen», sagt Mariamma, «und jetzt ist sie groß, Thoma. Gestern noch ein Kind und heute fast eine Frau. Das ging blitzschnell.»
Wenn Thomas Mutter darüber klagt, wie die Jahre vergehen, empfindet Thoma wohligen Schmerz. Wie die Zeit verfliegt. All die verlorenen Jahre. Ach, damals. Das hat er sein Leben lang gehört, doch erst nach Unnis Tod berührte ihn der Klang solcher Floskeln. Der süße Schmerz erinnerten Lebens, für den es auf Tamil und auf Malayalam kein passendes Wort gibt. Das sagte Unni. Und er sagte auch, dass es im Englischen ein Wort dafür gebe, das Thoma jetzt nicht mehr einfällt, ein Wort, das wie eine Krankheit klingt.
Unni sagte, es gebe tausenderlei
menschliche Gefühlsregungen
, die in keiner Sprache benannt werden können. Jeder Mensch habe mindestens ein Gefühl, das nur er empfinde und das sich kein anderer auch nur vorstellen könne. «Das gilt auch für dich, Thoma. Unter all deinen Gefühlen ist eines, das nur du empfinden kannst und sonst keiner auf der Welt.»
«Ich weiß, welches, Unni, aber sag’s nicht weiter», hatte Thoma geflüstert.
«Und zwar?»
«Morgens nach dem Aufwachen wird mein Penis größer, ganz von selber.»
«Meine Güte, Thoma, ist das dein Ernst?»
«Ich schwör’s.»
«Thoma, du bist einzigartig.»
«Wirklich?»
«Du bist ein Mutant.»
«Was ist mit denen?»
«Mutanten können Dinge, die gewöhnliche Menschen nicht können. Thoma, du bist ein Mutant.»
Das war der glücklichste Augenblick in Thomas Leben, obwohl Unni auch noch sagte: «Es ist jedoch ein Talent, Thoma, kein Gefühl.»
«Das hab ich mir schon gedacht, Unni. Es ist ein Talent. Aber ich habe trotzdem Gefühle, die andere vielleicht nicht haben. Wenn es geregnet hat, kann ich die Erde riechen.»
«Das kann eigentlich jeder.»
«Echt? Da ist noch was anderes. Das kann sich gar niemand vorstellen. Manchmal, wenn ich traurig bin und daran denke, dass unsere Mutter Selbstgespräche führt, dass unser Vater betrunken nach Hause kommt, dass wir nie alle zusammen ausgehen, weil wir kein Geld haben, wenn ich an all
Weitere Kostenlose Bücher