Das verbotene Glück der anderen
Kummer gehabt.»
«Wir wissen, dass das nicht stimmt.»
«Werde ich auch mal so? Stürz ich mich auch eines Tages irgendwo runter?»
«Sag so was nicht, Thoma. Hast du je Lust zu so was gehabt?»
«Nein.»
«Sag mir die Wahrheit.»
«Das ist die Wahrheit.»
«Denk jetzt an was anderes. Solche Gedanken machen nicht glücklich.»
~
An dem Tag, als ihr Sohn starb, wurde sie im Morgengrauen von einem Traum geweckt. Sie hat nicht die Gabe, ihre Träume zu lesen, glaubt aber, dass dieser Traum ein Omen war. Dieses bisschen Respekt erwartet sie vom Übernatürlichen. In ihrem Traum hatte sie eine Kindheitserinnerung gesehen, eine reine Erinnerung, die nicht von Magie oder anderen Trugbildern des Schlafes verfälscht war: eine alte Wunde, die, wie andere Kindheitswunden, keinem Täter zugeordnet werden konnte.
Es geschah, als sie zwölf Jahre alt war. Sie saß mit ihrer Mutter in einem Coracle, beider Blicke von dem großen Gemächt des Mannes im Lendenschurz abgewandt, der das Boot ruderte. In ihrer Erinnerung besteht der Mann nur aus zwei dunklen, starken Beinen; von der Taille aufwärts war er nichts als Himmel. Der Fluss war breit, still und bedrohlich, und kein Lüftchen regte sich. Sie wollte, dass ihre Mutter mit ihr redete, dass sie etwas Liebevolles oder auch ganz Normales sagte, weil am selben Tagetwas vorgefallen war. Doch ihre Mutter war eine Frau, die mit ihren Kindern nur sprach, wenn es unbedingt nötig war. Sie war Bäuerin und neigte nicht zu oberflächlichem Geplauder. Weil ihr Mann ein gutmütiger Einfaltspinsel war, den alle zu täuschen versuchten, kümmerte sie sich fast allein um die große Plantage. Sie lief zwischen den angezapften Kautschukbäumen und kolossalen Felsen umher, nahm die Arbeiter in die Zange, schlug Schlangen tot und jagte mehrmals mit einem im Handumdrehen aufgestellten Heer junger Männer Sanddiebe in die Flucht. Doch mit ihren Kindern redete sie nicht viel, schon gar nicht mit den Töchtern.
Mariamma wurde zu ihrer Pflegemutter zurückgebracht, der Schwester ihrer Mutter, die weiter unten am Fluss in einem alten blauen Haus wohnte. Man hatte sie als Zweijährige ihrer Tante geschenkt, weil ihre Mutter schon elf Mäuler zu stopfen hatte. Mariamma war die Jüngste, und als sie auf die Welt kam, war ihre Mutter es wahrscheinlich leid, so zu tun, als könne sie so viele Kinder lieben. Alle zwei Monate besuchte Mariamma ihre Mutter. Wenn sie bei ihr war, war sie überglücklich, und immer, wenn sie wieder gehen musste, wenn sie den Hügel ans Flussufer hinunterlief und sich in das Coracle setzte, das sie zu ihren Vormunden brachte, fühlte sie sich elend.
Das Ufer kam näher, und hinter dem hohen Kokospalmenhain sah man nun das Ziegeldach ihrer Pflegeeltern. Das Boot fuhr auf die hohe Steinmauer zu und erschrak wie immer über ein paar Steine im Wasser. Ein paar Meter vor der steilen roten Steintreppe, die zur Rückseite des Hauses führte, hielt es an. Mit Mühe gelangte sie aus dem Boot. Die schwarzen Beine hatten vielleicht auch Hände, aber die durften sie nicht anfassen. Mit den Schlappen in der Hand watete sie durchs Wasser und sprang auf die unterste, feuchte Stufe. Als sie sich nach ihrer Mutter umdrehte, war das Boot schon wieder mit ihr verschwunden. Inder Hoffnung, ihre Mutter würde sich zumindest einmal nach ihr umdrehen, wartete Mariamma. Sie stand da, und das Boot trieb langsam fort, war jedoch schon so weit weg, dass ein menschliches Gesicht keine Bedeutung mehr hatte.
Ein Mädchen auf einem nassen Stein, das darauf wartete, dass ihre Mutter sich ein einziges Mal nach ihr umdrehte – das hatte sie oft erlebt. Doch in ihrem Traum sah sie einen ganz bestimmten Tag. Wie konnte ihre Mutter sich an jenem Tag nicht nach ihr umdrehen und sie ansehen, einfach nur ansehen? Manche Dinge, die sogar gute Menschen taten, waren unbegreiflich. Daran dachte sie, als sie an jenem Tag im Morgengrauen aufstand. Aber das für Kummer zu halten, war dumm von ihr. Ein paar Stunden später würde sie erfahren, was Leid in Wirklichkeit war. Unni würde dann tot sein, und am nächsten Tag würde sie mit ansehen müssen, wie er in eine Grube heruntergelassen wurde. Und ohne wütend zu werden, zwei Arbeitern zusehen, die miteinander schwatzten, während sie frische Erde auf seinen Sarg warfen. Auf dem Heimweg hatte sie das seltsame Gefühl, leere Hände zu haben. Wenn sie an jenen Abend zurückdenkt, erinnert sie sich vor allem an dieses Gefühl, mit leeren Händen dazustehen.
Doch
Weitere Kostenlose Bücher