Das verbotene Glück der anderen
am letzten Morgen von Unnis kurzem Leben kam es ihr vor, als wüchsen die Klagen gegen ihre Mutter ins Unermessliche. Sie stand in der Küche und dachte triumphierend, dass sie doch so ganz anders als ihre Mutter war, dass sie ihre Kinder liebte, und zwar leidenschaftlich. Sie würde sie nie im Stich lassen. Darauf hatten nur Kinder ein Anrecht. Wenn sie mit ihnen über stark befahrene Straßen ging, nahm sie sie fest an der Hand und rannte los. Unni brach immer in Gelächter aus. Obwohl er schon fast ein Mann war, ließ er sich von ihr an der Hand fassen, und dann rannten sie über die Straße. Er genierte sich nie. Dass ihm nichts je peinlich war, gehörte zu Unnis Merkwürdigkeiten.Er genierte sich weder für sein Zuhause noch für seine Mutter, und wenn er sich geniert hätte, hätte sie ihm verziehen, doch dazu kam es nie.
Als sie so in der Küche stand, sprach sie vielleicht laut, auch wenn sie nicht mehr weiß, was sie sagte. Unnis Stimme ließ sie zusammenzucken. Er blickte die Wand an und murmelte etwas, drohte der Zimmerdecke mit dem Finger und flüsterte: «Mutter, du hast mich im Stich gelassen. Mrs Leelama aus dem Geschlecht Johannes des Täufers, Sie haben mich im Stich gelassen.» Er imitierte sie hervorragend; die Art, wie er den Kopf schief legte, die Lippen spitzte und mit zitternder Stimme sprach, war so perfekt, dass sie unweigerlich lachen musste.
Wie immer muss er an der Tür gestanden und geduldig gewartet haben, damit er kein Wort von ihr verpasste. Er sagte, er habe die ganze Nacht an einem Comic gearbeitet und sei fast fertig, aber etwas stimme noch nicht ganz. Deshalb bat er sie, ihm Modell zu stehen, er wollte, dass sie wütend dastand, mit hochgezogenem Sari, und plötzlich ein finsteres Gesicht machte und den Finger drohend nach oben richtete.
«Zeichnest du mich?»
«Stell mir frühmorgens keine solchen Fragen. Steh einfach dreißig Sekunden lang so da. Mehr nicht. Ich muss es nur kurz sehen.»
«Ich hab wirklich was Besseres zu tun, Unni.»
«Nur zwanzig Sekunden.»
Sie versuchte, sich wie gewünscht hinzustellen, musste aber sofort kichern.
«Ich kann das nicht, Unni. Ich komme mir lächerlich vor», sagte sie.
«Nur zehn Sekunden.»
«Du kannst mich nicht so durch den Kakao ziehen. Das ist irgendwann nicht mehr lustig.»
«Ich zieh dich nicht durch den Kakao. Hab ein bisschen Vertrauen.»
«Ich mach das nicht mit, Unni.»
Er griff nach ihrer Hand und betrachtete ihre Finger. «Gefallen dir deine Finger?», fragte er.
«Ich finde sie hübsch. So wie deine.»
«Du findest meine Finger gut?»
«Ja. Sie sind lang und stark und verlässlich.»
«Ich frage mich, warum Finger so schwer zu zeichnen sind», sagte er. «Unvorstellbar schwer.»
«Weil du sie im Grunde nicht für wichtig hältst. Deshalb kriegst du sie nicht richtig hin.»
Er blickte sie mit seinen schmalen Augen neckend an, mit der Herablassung eines Sohnes. Dann ging er wortlos auf sein Zimmer. Es war das letzte Mal, dass sie miteinander sprachen. Als sie zwei Stunden später zur Messe ging, saß er immer noch an seinem Tisch. Sie betrachtete ihn und dachte, wie schön er doch war, was für einen beruhigenden Anblick solch ein junges, sanftes, kluges Geschöpf bot. Anders als die anderen Heranwachsenden, bewegte er sich nicht hektisch. Selbst wenn er nicht arbeitete, konnte er stundenlang still sitzen. An seine übernatürliche Reglosigkeit erinnert sie sich vor allen Dingen.
Sie wandert durch die Wohnung und erinnert sich noch einmal an jenen Morgen, als sie zum letzten Mal Leben in ihrem Kind sah. Was immer Unni damals gezeichnet haben mochte, ist nicht mehr auffindbar. Sie hat die Wohnung tausendmal durchsucht und sucht wahrscheinlich immer noch täglich danach, ohne dass ihr das bewusst ist. Ihre Suche ist immer erfolglos, zeitigt jedoch viele andere Funde – kleine Fotos ernster Menschen, die sie nicht kennt, ein paar Knöpfe, Briefe an ihre Familie auf dem gewaltigen Hügel, die sie aus irgendeinem Grund nicht abgeschickthat, dann die Antwortbriefe, die dennoch kamen, sowie verschiedene kleine Schlüssel.
Sie hat Ousep mehrmals gefragt, was ihn dazu veranlasst hat, erneut nach Spuren Ausschau zu halten. Er hat ihr nie eine Antwort gegeben. Um ihn zum Reden zu bringen, hat sie dann vor zwei Wochen morgens zu ihm gesagt: «An dem Tag, als Unni es tat, hat er an einem Comic gearbeitet. Das habe ich gesehen. Er ist die ganze Nacht aufgeblieben und hat versucht, ihn fertig zu zeichnen. Aber dieser Comic
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