Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verbotene Glück der anderen

Das verbotene Glück der anderen

Titel: Das verbotene Glück der anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manu Joseph
Vom Netzwerk:
Thoma sieben war. Nie würde er vergessen, wie er im Morgengrauen von ihren entsetzlichen Schreien aufwachte. Als Thoma zu ihr kam, war sie im Bad, hatte aber die Tür nicht abgeschlossen. Er machte sie nervös auf, und der Anblick der heulenden alten Frau vor dem Spiegel war so entsetzlich, dass er erst nicht merkte, was mit ihr los war. Dann sah er, dass sie kaum noch Haare hatte. Jemand hatte ihr im Schlaf ihr langes silbernes Haar abgeschnitten. Sie saß den ganzen Tag mit bedecktem Kopf in einer Ecke, machte ein böses Gesicht und hielt ihr abgeschnittenes Haar mit einer Hand umklammert. Vaterwar an diesem Tag nicht in der Stadt, er war nach Sriharikota gefahren, um über den Start einer indischen Rakete zu berichten. Mutter war schweigsam, aber nicht unglücklich. Schließlich sagte Annamol zu ihrem Mann: «Ich will abreisen.»
    Der alte Mann saß in der Unterhose im Schneidersitz, in der Hand eine angezündete Zigarette, die Ellenbogen auf die Schenkel gestützt. Sein ganzer Körper glänzte vor Schweiß.
    «Ich will abreisen», sagte sie nochmals.
    «Indien startet gleich eine Rakete», sagte er.
    «Schön und gut, aber Annamol will liebend gern einen Zug nehmen», sagte sie.
    «Du hast es nicht verstanden, Frau, die Regierung sagt, alle sollen in ihren Häusern bleiben, weil die Rakete abstürzen kann.»
    Also reiste Annamol erst am späten Abend, als der Nachrichtensprecher bekannt gegeben hatte, dass keine Gefahr mehr bestehe, weil die Rakete ins Meer gestürzt sei. An der Tür hob sie die Faust und warf eine Handvoll Luft in Mariammas Richtung. «Ich verfluche dich», sagte sie. «Du sollst weinen wie ich.» Mariamma blickte zur Decke hinauf und murmelte ein Ave Maria. Großmutter stierte sie an und sagte dann im Flüsterton einer zischenden Schlange: «Maria kann dich nicht retten. Nur weil Männer Jungfrauen mögen, ist eine Jungfrau noch lange kein Gott.»
    Mariamma blickte wieder zur Decke hinauf und flüsterte: «Lieber Gott, wir haben anscheinend Protestanten unter uns, vergib ihnen ihre Sünden.»
    Seitdem hat Thoma seine Großmutter nicht mehr gesehen. Sie war nicht auf Unnis Beerdigung. Keiner von den Verwandten war gekommen. Die Beerdigung war einen Tag nach seinem Tod; die Zeit reichte nicht, um aus Kerala anzureisen.
    Thoma fragt sich, ob Annamol weit weg auf einem riesigenFeld steht, einem Jackfruchtbaum mit dem Finger droht und seine Mutter beschuldigt, ihr die Haare abgeschnitten zu haben. Großmutter kennt die Wahrheit wahrscheinlich immer noch nicht.
    Unni hatte ihr die Haare abgeschnitten. Damals war er erst fünfzehn, aber mutig wie immer. An dem Abend, als Annamol abreiste, sagte er mit fürchterlichem Hass in den Augen: «Gerechtigkeit für unsere Mutter, Thoma. Eine Tragödie zu erleben, die gleichzeitig witzig ist, ist das Schlimmste, was einem widerfahren kann. Und genau das ist Großmutter widerfahren.»
    Jedes Mal, wenn Mariamma mit den Wänden sprach, hörte Unni sehr aufmerksam zu. Er stand gewöhnlich abseits, wo man ihn nicht sah, und starrte mit den Händen in den Hüften zu Boden. Wenn Thoma zu ihm kam und mit ihm reden wollte, hob er den Finger und bat ihn, still zu sein. Unni war es wichtig, jedes Wort zu hören, das aus ihrem Mund kam. Es war, als versuchte er, aus den Strängen ihrer zahllosen Selbstgespräche ein Rätsel zu rekonstruieren. Manchmal, wenn Mutter besonders verwirrt wirkte, ging er zu ihr und riss einen Witz über ihr Gebaren oder stellte sich neben sie und äffte sie nach. Oder er ließ sich die Familiengeschichten erzählen, die hinter den Nörgeleien verborgen lagen, und das machte sie jedes Mal sehr glücklich. Manchmal lachte sie, während sie erzählte, und sagte: «Unni, du bist wie eine Tochter.»
    Einmal wies er Thoma auf etwas hin, was Thoma wahrscheinlich allein nie herausgefunden hätte. Zwar sah es aus, als nähmen die Nörgeleien ihrer Mutter kein Ende und als hätten zahlreiche Menschen ihr einst etwas angetan, aber in Wirklichkeit gab sie höchstens ein Dutzend Namen von sich, und jeder Name war fest mit zwei oder drei Begebenheiten verknüpft, die sie immer wieder erwähnte. Thoma findet es tröstlich, dass seinerMutter in ihrer Jugend nicht allzu viele schlimme Dinge passiert sind. Und wenn man die Zeit dafür fand, konnte man mathematisch berechnen, wie viele Klagen sie genau vorbrachte. Er hofft, er findet eine Methode, sie für immer zu beruhigen und eine Frau aus ihr zu machen, die, wie andere Frauen, nicht mit den Wänden redet.
    Im

Weitere Kostenlose Bücher