Das verbotene Glück der anderen
ist nicht mehr da. Irgendwo muss er sein, das weiß ich genau, nur hier bei uns ist er auf keinen Fall.»
Ousep sah sie interessiert an, was er in nüchternem Zustand selten tut, doch dann ging er wortlos zur Arbeit. Zwei Stunden später rief er an und fragte sie etwas Seltsames: «Weißt du, ob Unni den Comic fertig gezeichnet hat? Du hast gesagt, dass er daran gearbeitet hat, aber weißt du auch, ob er damit fertig geworden ist?»
«Wir haben keinen Reis mehr im Haus», sagte sie. «Wir haben kein Öl. Kein Gemüse. Keine einzige Zwiebel.»
Sie hörte, wie er ausatmete. «Frau», sagte er und stieß noch mehr Luft aus. «Hat Unni den Comic fertig gezeichnet, oder hat er vorgehabt, ihn später fertig zu zeichnen?»
«Ich kann nicht mehr in den Laden gehen», sagte sie. «Der Mann im Laden ist ein guter Christ. Er ist Konvertit, aber ein guter Mensch. Doch selbst die Barmherzigkeit eines guten Christen hat eine Grenze. Wir haben zu viele Schulden bei ihm, und bevor wir nicht zumindest einen Teil davon abbezahlt haben, gibt er uns kein einziges Gran.»
Ousep war wahrscheinlich in der Redaktion und flüsterte deshalb: «Du bist eine schreckliche Frau.»
«Ist es nicht ganz egal, ob Unni den Comic fertig gezeichnet hat?», sagte sie.
«Antworte einfach auf meine Frage.»
«Ich weiß nicht», sagte sie. «Aber in gewisser Weise ist der Comic doch zu Ende, oder?»
~
Es ist ein heißer Vormittag, und der Tag strahlt wie das Leben nach dem Tode; die Fenster in der Ferne und die Metallstangen der Bushaltestellen glühen. Ousep geht zügig, fast schnell, doch dann bleibt er stehen. Dieser Augenblick kalten Entsetzens wird ihm für immer im Gedächtnis bleiben. Er merkt nämlich plötzlich, dass er nicht weiß, wo er hingeht. Er hat keine Verabredung und muss nirgendwohin. Schon seit über einer Stunde geht er zu Fuß und bildet sich ein, dass er mit einem neu entdeckten Bekannten von Unni verabredet ist. Er kennt diesen Bekannten und sieht sein Gesicht deutlich vor seinem inneren Auge. Aber der junge Mann existiert nicht. Ousep weiß nicht mehr, wie er in diese Straße gelangt ist. Er hat an Unni gedacht und sich dabei irgendwann einen freundlichen Menschen vorgestellt, der nur darauf wartet, ihm etwas mehr über Unni zu erzählen. Nicht nur die Wahnvorstellung macht Ousep Angst, sondern das unwiderrufliche Eingeständnis, dass er jetzt wahrscheinlich alle getroffen hat, die Unni kannten. Viele von ihnen hat er mindestens zweimal getroffen. Es gibt niemanden mehr, den er noch nicht befragt hat, außer Somen Pillai, dessen Wichtigkeit ohnehin nur darauf beruht, dass er nicht zur Verfügung steht. Daran zeigt sich, wie klein das Leben eines Jugendlichen ist. Ein hartnäckiger Vater kann sie alle finden. Was soll er jetzt tun? Wohin wollte er so schnell, woran hat er gedacht? Was ist das für ein Mann, der nicht weiß, wohin er geht?
Ousep geht zu einer Bushaltestelle und setzt sich auf die Aluminiumbank.Er weiß auch nicht, wieso, aber plötzlich muss er weinen und drückt die Handgelenke gegen die Augen. Warum bloß, Unni? Die Blicke, die Fremde ihm zuwerfen, sind länger und aufmerksamer als diejenigen, die er auf sich zieht, wenn er betrunken auf die Straße torkelt und den Verkehr in Madras zum Stehen bringt. Er denkt an die Zeit, als Unni ein kleines Kind war und immer mit ausgestreckten Armen zu seinem Vater hinaufsah. Doch Ousep hob ihn nie hoch. In ihrer ungleichen Liebe starrten die beiden einander nur schweigend an.
Was sucht Ousep? Einen ehrenwerten Grund für Unnis Tod, einen glücklichen Grund? Sucht er die Wahrheit?
Er merkt, dass jemand neben ihm steht. Ein dürrer Mann mit einem Aktenordner unter dem Arm hält ihm eine Flasche kaltes Sodawasser hin. «Nehmen Sie das, Sir», sagt der Mann. Es ist Soda in einer Flasche mit Murmelverschluss, Madras’ Allheilmittel für Menschen, die von Lastwagen angefahren wurden, einen Hitzschlag oder epileptischen Anfall auf der Straße erlitten haben, und sogar für die Toten. Diese Flasche erinnert die Gefallenen daran, dass ihnen etwas zugestoßen ist. Ousep Chacko ist also schließlich zum Sodaempfänger geworden.
Doch gegen Abend hat er sich wieder erholt. Seine Lungen sind rein und seine Augen sauber. Er ist sogar glücklich und schämt sich ein bisschen für sein gewöhnliches Alltagsglück, so, als hätten Väter toter Söhne darauf kein Recht.
Weil Ousep nicht weiß, wo er noch suchen soll, gibt er seine Nachforschungen, wie schon oft zuvor, auf und
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