Das verbotene Glück der anderen
ist.
Um ihre Wut loszuwerden, muss sie einen Spaziergang machen. Sich in ihr Zimmer einzuschließen, kommt nicht in Betracht, weil ihre Zimmertür keinen Riegel mehr hat. Mutter hatte sich bei Vater darüber beschwert, dass sich Mythili stundenlang in ihr Zimmer einschloss, und deshalb hatte Vater den Riegel mit einem Schraubenzieher abmontiert. Daraufhin verrammelte Mythili die Tür mit ihrem Tisch, und Vater kam mit vier verschieden großen Schraubenziehern an und sagte: «Wenn du so weitermachst, montiere ich die Tür ab.»
Vielleicht sollte Mythili sich in einen netten Jungen verlieben und sich aus Rache Vorspiel im Überfluss gönnen. Sie beschließt, zur Circular Road zu gehen, zwei Freunde aufzulesen und mit ihnen große Runden um einen Park voller billiger Bougainvilleen zu ziehen und die Sache zu besprechen.
Doch dann taucht direkt vor ihr ein vertrauter Anblick auf, der ihr sämtliche Jungen für den Rest der Woche verleidet: ein großer, schlaksiger Junge von vielleicht fünfzehn Jahren, flankiert von Papa und Mama. Sie haben ein wichtiges Ziel, vermutlich einen Tempel, der weit entfernt ist. Der Junge ist viel größer als seine Eltern, doch im Moment bekommt er von ihnen gehörig den Arsch aufgerissen. Der Junge schweigt.
Vater sagt: «Was sind vierundneunzig Prozent? Was sind heutzutage vierundneunzig Prozent? Auch das ist Mathe. In Madras. Was sind vierundneunzig Prozent? Wie kannst du es wagen,nach Hause zu kommen und uns mit diesem Ergebnis unter die Augen zu treten?»
Mutter sagt: «Du strengst dich nicht genug an. Sieh dir mal deine Freunde an, die strengen sich richtig an.»
Vater sagt: «Und dann deine JEE-Punktzahl. Was ist denn mit dir los? Willst du aufs IIT oder nicht? Willst du nach Amerika oder nicht? Es ist deine Entscheidung. Willst du hier verrotten?»
«Willst du scheitern?»
«Scheitern kommt nicht in Frage.»
Mythili weiß, dass der Junge nicht scheitern wird. Sie hat die früheren Generationen gesehen. Der Junge wird es schaffen. Scheitern kommt für ihn nicht in Frage, wie sein Vater sagte. Mindestens eine Aufnahmeprüfung wird er bestehen und dann eines Tages ein schönes Haus in einem Vorort von San Francisco haben oder in einem Vorort von einem Vorort von San Francisco. Er wird eine niedliche tamilische Brahmanin zur Frau nehmen, die ihm zwei süße Kinder gebärt. Er wird mit einem Toyota Corolla zur Arbeit fahren. Und dort, im Konferenzzimmer seines Büros, wird er seinem kleinen Team mit ausladender Managergeste erklären: «Wir müssen unkonventionell denken.»
Ihr zukünftiger Mann müsste ungefähr wie dieser Junge sein. Er würde dieselbe endoskopische Bambusrohrmisshandlung durchlitten haben und danach entschlossener geworden sein, es mit dem Leben zu versuchen. Dieser Mann, ihr Mann, befindet sich vermutlich genau in diesem Moment irgendwo in Madras. Sie fragt sich, was er gerade macht. Sitzt er zu Hause vor dem Schreibtisch, auf dem sich IIT-Materialien neben einem Taschenrechner türmen? Nennt auch er seinen Taschenrechner «Calcy»? Legt er zwischendurch Wichspausen ein und denkt dabei an Silk Smitha? Was machst du gerade, mein Herr und Gebieter?
Würde er Unni das Wasser reichen können? Diese Frage stelltsie sich lieber nicht, sie behagt ihr nicht. Sie fragt sich, ob Unni ihr je aus dem Kopf gehen wird. Oder wird sie ihn mit der Zeit vergessen, ist er irgendwann nur noch eine blasse Erinnerung? An diesem Abend ist sie überzeugt, dass sie ihn immer aus der mythischen Perspektive einer Dreizehnjährigen in Erinnerung behalten wird. Und die Männer, die ihr über den Weg laufen werden, Männer, die nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit langweilige Programmierer sein werden, dürften gegen Unni Chacko kaum eine Chance haben.
Ihr kommt eine Erinnerung, die sie überrascht, ein Moment, an den sie noch nie gedacht hat. Seit Unni tot ist, besteht ihre Erinnerung an ihn immer aus denselben festen Bildern und Ereignissen. Es ist, als hätte der Schock, den sie heute erlitt, viele dieser Erinnerungen blank geputzt. Doch hin und wieder fallen ihr bestimmte Szenen ein, und sie fragt sich, warum sie sich plötzlich an so gewöhnliche Momente erinnert, besonders an diesen einen. Selbst als sie ihn mit dreizehn erlebte, hatte sie ihn nicht für wichtig gehalten. Doch jetzt, da dieser Moment ihr wieder einfällt, jetzt, da sie älter ist, fragt sie sich, ob er nicht doch von Bedeutung ist.
Sie erinnert sich an einen Abend bei ihm zu Hause. Sie ist schon ein paar
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